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"Die Mannschaft" - das Produkt ist kaputt

18. November 2020

Die deutsche Nationalmannschaft hat gegen Spanien ein Debakel erlebt. Die Führung um Joachim Löw und Oliver Bierhoff wirkt ratlos und der gesamte DFB erscheint momentan kaum handlungsfähig.

Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff steht weiter zu Bundestrainer Löw | Oliver Bierhoff
Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff steht weiter zu Bundestrainer LöwBild: Ronny Hartmann/AFP/Getty Images

Oliver Bierhoff rang sich noch ein Lächeln ab. Er möge doch bald mal wieder vorbeikommen und der Nationalmannschaft einen Besuch abstatten, sagte der Manager der Nationalmannschaft in Richtung ARD-Experte Bastian Schweinsteiger, nachdem dieser den Auftritt und die Situation der Nationalmannschaft mit expliziter Kritik bedacht hatte. Bierhoffs Worte konnten allerdings auch als Retourkutsche an jemanden verstanden werden, der einst auch zum inneren Zirkel der Nationalmannschaft gehört hat und so offen Kritik an den Führungspersonen äußert.

Die Situation rund um die Nationalmannschaft ist spätestens nach dem 0:6-Debakel in Sevilla gegen Spanien desaströs. Die Diskussionen über den richtigen Weg in die Zukunft dauern schon lange an und werden in ihrer Intensität wohl noch weiter zunehmen. Bundestrainer Joachim Löw hat sich dafür entschieden, nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2018 in Russland - ein noch größeres Debakel als das von Sevilla - nur noch auf die Zukunft zu setzen.

Löw hat Führungsspieler und Leistungsträger wie Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller fast schon unhöflich aus dem Team entfernt. Eine Rückkehr trotz der sportlichen Probleme des Teams? Unter Löw offenbar ausgeschlossen. 

Talfahrten allerorten

Der Bundestrainer hat sich für die Vision und gegen das Leistungsprinzip entschieden. Aus diesem Dilemma kommt er - ohne sein Gesicht zu verlieren - nicht mehr raus. Bereits nach der verunglückten WM hatte er bei seinem selbst eingestandenen Taktik-Irrtümern davon geredet, "fast schon arrogant" gewesen zu sein.

Eindeutig ist aber auch: Nach dem triumphalen WM-Titel 2014 in Brasilien ging es sportlich fast nur noch bergab, während der Bundestrainer dies ignorierte, sich inhaltlich unnahbar gab und Kritiker für ihn nur noch als lästig erschienen. Löw suggerierte (wohl auch sich selbst), dass vor allem er es sei, der den Tanker Deutschland aus schwerer See heraus manövrieren könne. 

 

Eingerahmt wurde die andauernde Talfahrt allerdings von den Organisatoren des "Premium-Produkts Nationalmannschaft" und dem DFB selbst. Organisator Bierhoff hatte das Umfeld der DFB-Elf einst aus dem Dornröschenschlaf erweckt und eine Professionalisierung auf allen Ebenen in Gang gesetzt, wie es diese im DFB noch nie zuvor gegeben hatte. Die Nationalmannschaft wurde unter dem heute 52-Jährigen so intensiv vermarktet, dass dies sogar bis in dahin dem Fußball weniger zugewandte gesellschaftliche Teile vordrang.

Die Folge: Ein Hype in Deutschland, der stets von guten sportlichen Ergebnissen untermalt war. Aber auch Bierhoff verlor irgendwann Maß und Mitte. Auch er zeigte kaum Kritikfähigkeit, verlor den Blick auf die Auswirkungen seines Handelns. 

Vermarktung bis es nicht mehr geht

So wurde der Fanklub-Nationalmannschaft gegründet: Eine eher unkritische Ansammlung von Nationalmannschafts-Freunden mit bevorzugten Ticketansprüchen und keine homogene Fangemeinde, die sich Entwicklungen auch mal entgegenstellt. Öffentlich zugängliche Trainingseinheiten? Nur noch in Ausnahmesituationen. Als Bierhoff dem Nationalteam den Marketing-Slogan "Die Mannschaft" verpasste und später dann von "Stakeholdern im Umfeld" und einem "Produkt" sprach, nahm die bereits eingetretene Entfremdung weiter ihren Lauf. 

Die DFB-Elf wurde immer mehr zum Vehikel einer scheinbar nicht enden wollenden Monetarisierungsstrategie und verlor auf diesem Weg ihre Authentizität und ihre Nähe zu den Fans. Wie weit diese unerfreuliche Entwicklung schon vorangeschritten war, spiegelten die schon vor der Corona-Pandemie deutlich gesunkenen Länderspiel-Zuschauerzahlen in den Stadien wider. Bis auf ein paar Lippenbekenntnisse und dem Zugeständnis, die eine oder andere Trainingseinheit wieder öffentlich abzuhalten, gab es aber kaum Veränderungen. 

Interne Kämpfe

All diese Entwicklungen hätten von einem starken Verband womöglich noch erkannt und korrigiert werden können. Aber der DFB beschäftigte sich in den vergangenen Jahren vor allem mit sich selbst und internen Machtfragen, anstatt Kapazitäten für eine richtungsweisende Strategie aufzubringen. Die Hoffnung darauf, dass Löw und Bierhoff schon den richtigen Weg finden würden, genügte der Verbandsführung offenbar, um ihnen freie Hand zu lassen. Damit erschufen sich Löw und Bierhoff eine Hausmacht innerhalb des DFB, die sie gegen Kritik nahezu immun macht - der Staat im Staat sozusagen.

Präsident Fritz Keller will den DFB verändernBild: DW/M. Vering

Weder der ehemalige DFB-Präsident Reinhard Grindel, noch dessen Nachfolger Fritz Keller haben es vollbracht, die Nationalmannschaft wieder zur Geliebten der deutschen Fußball-Nation werden zu lassen. Dass der Verband Joachim Löw, der noch einen Vertrag bis zur WM 2022 besitzt, vorzeitig entlässt, scheint ausgeschlossen. Keller hat derzeit vielmehr damit zu kämpfen, neue Strukturen zu schaffen und stößt dabei auf großen Widerstand.

Ohnehin hat es beim DFB noch nie eine Entlassung des Bundestrainers gegeben. Ein geregelter Übergang nach einem großen Turnier war stets der Normalfall. Allerdings war der Absturz auch selten so dramatisch. Der DFB hat gerade so viele Baustellen zu bearbeiten, dass ein Wechsel auf der Position des Bundestrainers zum jetzigen Zeitpunkt nicht an erster Stelle steht und Löw auch bei der im Sommer 2021 stattfindenden EM im Amt sein wird. 

Nach der Rückkehr in Frankfurt am Mittwoch führten Oliver Bierhoff und Keller ein halbstündiges Krisengespräch im VIP-Terminal des Münchner Flughafens. Danach stand fest: Löw bleibt trotz der zweithöchsten Niederlage der deutschen Länderspiel-Geschichte Bundestrainer.

Der DFB-Präsident sagte, man habe sich von Verbandsseite "bewusst entschieden, den Umbruch mit vielen neuen und jungen Spielern mit Perspektive zu vollziehen. Dieser Weg kann, wie man gestern gesehen hat, der steinigere sein und auch zu schmerzhaften Niederlagen führen". Die Herausforderung bestehe weiterhin darin, "eine starke Mannschaft zu formen für die nächsten drei großen Turniere: die Europameisterschaft im kommenden Jahr, die WM 2022 und die EM im eigenen Land 2024".