In Berlin-Reinickendorf erzielten alle Parteien bei der Bundestagswahl 2017 fast die gleichen Stimmenanteile wie auch deutschlandweit - doch wieso? Ein Erklärungsversuch von Marcel Fürstenau.
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Die vielen Gesichter Berlin-Reinickendorfs
Der Berliner Bezirk Reinickendorf besteht aus elf sehr unterschiedlichen Ortsteilen. Weltweit bekannt ist der ehemalige Flughafen Tegel. Aber auch sonst gibt es viel Sehenswertes und Überraschendes.
Bild: gemeinfrei
Borsigwalde
Borsigwalde ist Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als Kolonie für die Arbeiter und Angestellten der nahe gelegenen Borsigwerke entstanden. Das Unternehmen war in der Frühzeit der Eisenbahn Europas größter Produzent von Dampflokomotiven. Heute ist der Ortsteil überwiegend bürgerlich geprägt.
Bild: Marcel Fürstenau/DW
Frohnau
Das Kulturhaus "Centre Bagatelle" ist eines von vielen architektonischen Schmuckstücken der um 1910 angelegten Gartenstadt Frohnau. Dominierend sind exklusive Villen und Landhäuser. Besondere Attraktionen sind das Buddhistische Haus und der Poloplatz. Das Durchschnittseinkommen gehört zu den höchsten in Berlin.
Bild: Marcel Fürstenau/DW
Heiligensee
Heiligensee war mal ein Dorf und liegt auf einer Halbinsel zwischen der Havel und dem namensgebenden Heiligensee. Bis ins 20. Jahrhundert lebten die Einwohner überwiegend von der Landwirtschaft. Davon sind zwei große Felder übrig geblieben. Seit den 1980er Jahren gibt es einen Autobahn-Anschluss Richtung Norden und Berliner City.
Bild: Marcel Fürstenau/DW
Hermsdorf
Im Ortsteil Hermsdorf befindet sich das Reinickendorfer Heimatmuseum. Wiesen und Wasser sind gleich um die Ecke. Viele Einfamilienhäuser prägen das Straßenbild. In den 1950er Jahren lebte der berühmte Schriftsteller Erich Kästner im ruhigen Waldsee-Viertel. Aber auch eine viel befahrene Bundesstraße gehört zu Hermsdorf.
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Konradshöhe
Wer schnell von Reinickendorf in den Nachbarbezirk Spandau kommen will, nimmt in Konradshöhe die Fähre. Die Havel ist an dieser Stelle so schmal, dass besonders schlagkräftige Menschen einen Tennisball wahrscheinlich auf die jeweils andere Seite werfen können. Badestellen und Bootsstege gibt es hier in Hülle und Fülle.
Bild: Marcel Fürstenau/DW
Lübars
Das älteste Dorf Berlins heißt Lübars. Noch heute wird hier, direkt neben der Hochhaussiedlung Märkisches Viertel, Landwirtschaft betrieben. Reiterhöfe, Stallungen und Bauernhöfe säumen den historischen Ortskern mit Kopfsteinpflaster. Im Tegeler Fließ tummeln sich Schwäne, Bieber, Frösche und viele andere Tiere.
Bild: Marcel Fürstenau/DW
Märkisches Viertel
Das Märkische Viertel ist neben der Gropiusstadt im Süden die zweite Neubausiedlung, die ab den 1960er Jahren im damaligen West-Berlin auf der grünen Wiese errichtet wurde. Die ersten Bewohner stammten vor allem aus maroden Altbauten in der Innenstadt. Heute leben im "MV" rund 40.000 Menschen, viele haben einen Migrationshintergrund.
Bild: Patrick Pleul/dpa/picture alliance
Reinickendorf (Ortsteil)
Reinickendorf ist auch der Name eines Ortsteils - und die Keimzelle des heutigen Großbezirks gleichen Namens. Gegründet wurde das Dorf im 13. Jahrhundert von einem niedersächsischen Bauern, der Reinhardt hieß. Davon abgeleitet wurde das plattdeutsche Renekentorp. Die in den 1930er Jahren errichtete "Weiße Stadt" steht seit 2008 auf der Liste des UNESCO-Welterbes.
Bild: Marcel Fürstenau/DW
Tegel
Tegel war bis Mai 2021 das Tor zur Welt, um mit dem Flugzeug von und nach Berlin zu fliegen. Hier befindet sich auch die Villa Borsig, in der das Auswärtige Amt seine Diplomaten ausbildet und hochrangige Staatsgäste empfängt. Der Tegeler See ist ein beliebtes Ausflugsziel mit Anlegestellen für Dampfer und Freizeit-Kapitäne.
Bild: picture-alliance/dpa/Revierfoto
Waidmannslust
Fast alle Reinickendorfer Ortsteile haben einen U- oder S-Bahnanschluss, der direkt in die Berliner City führt. Von Waidmannslust dauert es nur eine knappe halbe Stunde, um den pulsierenden Potsdamer Platz zu erreichen. Die Bebauung ist ein Mix aus Einfamilien- und Hochhäusern, mit denen man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wohnungsnot linderte.
Bild: Marcel Fürstenau/DW
Wittenau
In Wittenau befindet sich das 1910/11 errichtete Reinickendorfer Rathaus. Hier trifft sich die Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Jeder der zwölf Berliner Großbezirke hat eine eigene BVV. Sie wird zeitgleich mit dem Abgeordnetenhaus gewählt. So heißt im Stadtstaat Berlin das Landesparlament. Die Wahl findet 2021 zusammen mit der Bundestagswahl am 26. September statt.
Bild: Marcel Fürstenau/DW
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Wer Reinickendorf nicht kennt, war nie in Berlin. Und den Stadtteil nicht kennen zu lernen, das kann durchaus passieren, wenn man mit dem Auto, der Bahn oder dem Rad in die deutsche Hauptstadt reist. Auf der anderen Seite: Millionen Menschen aus aller Welt, die seit 1974 das Flugzeug genommen haben, landeten in: Reinickendorf! Denn in diesem nordwestlichen Bezirk befand sich der im Mai 2021 stillgelegte Flughafen Tegel.
Bezirk der Gegensätze: Villenviertel und Hochhaussiedlung
Rund 266.000 Menschen leben hier zwischen viel Wald und Wasser. Klingt idyllisch, ist es an vielen Stellen auch. Aber Reinickendorf ist auch voller Gegensätze, was sich zeigt, wenn man die einzelnen Ortsteile genauer betrachtet: Da gibt es die zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegte Gartenstadt Frohnau mit prachtvollen Villen im englischen Landhausstil, aber auch das in den 1960er Jahren entstandene Märkische Viertel. In der Hochhaussiedlung leben mehr als 40.000 Menschen auf 3,2 Quadratkilometern, in Frohnau weniger als 17.000 auf einer mehr als doppelt so großen Fläche.
Zwischen diesen Extremen gibt es auch sonst alles, was so oder ähnlich in anderen Ecken Deutschlands anzutreffen ist: das Dorf Lübars mit Fließlandschaft und Reiterhöfen, Tegel mit Dampferanlegestelle und dem nun ehemaligen Airport oder Wittenau und Borsigwalde mit weitläufigen Gewerbegebieten. Reinickendorf, das nach dem Zweiten Weltkrieg zum Französischen Sektor und damit zu West-Berlin gehörte, ist heute also weder sozial noch wirtschaftlich ein homogener Bezirk.
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Reinickendorf schon länger repräsentativ
Ein Befund, der sich auch im Wahlverhalten widerspiegelt. Und das Verblüffende: Das Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017 bei den Zweitstimmen ähnelte dem in der ganzen Bundesrepublik fast exakt. Die durchschnittliche Abweichung lag bei minimalen 0,8 Prozentpunkten - kurioser Zufall oder steckt mehr dahinter? Ein Blick in die jüngere Historie zeigt, dass der Wahlkreis 77, nämlich Reinickendorf, auch schon 2013 fast so gewählt hatte wie Deutschland insgesamt.
Was sich hinter den statistischen Zahlen verbergen könnte und ob das Phänomen präziser erklären ließe, ist noch völlig unerforscht. Vielleicht ist es wirklich nur eine Laune des Wahlvolks. Einer Minderheit von 182.000 Frauen und Männern, die bei der Bundestagswahl ihre Kreuze machen dürfen. Das sind zwar nur 0,3 Prozent aller Wahlberechtigten, aber sie scheinen irgendwie repräsentativ für Deutschland zu sein.
Wo CDU, SPD und AfD ihre Hochburgen haben
Das könnte der Erklärungsansatz sein. Die Reinickendorfer Bevölkerung deckt nämlich das ganze gesellschaftliche Spektrum ab: einkommensstarke Bildungsbürger, breite Mittelschicht, viele Rentner und Sozialhilfeempfänger. In den einzelnen Ortsteilen des Bezirks sind die Unterschiede allerdings mitunter riesig: Im wohlhabenden Frohnau erzielten die Christdemokraten 2017 in einigen Wahllokalen bis zu 45 Prozent, während die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) im Märkischen Viertel in zwei Wahllokalen auf rund 25 Prozent der Stimmen kam und damit an der Spitze lag.
Dort gab es auch für die Sozialdemokraten ein paar Lichtblicke mit Ergebnissen über der 30 Prozent-Marke. Auch solche Ausschläge dürften vor allem mit der Bevölkerungsstruktur zu erklären sein: Berlin-Reinickendorf ist allem Anschein nach Deutschland im Miniaturformat. Am 26. September wird sich zeigen, ob der Bezirk diesen Status verteidigt. An diesem Tag entscheiden 60,4 Millionen Menschen in 299 ungefähr gleich großen Wahlkreisen darüber, welche Parteien ins Parlament, den Deutschen Bundestag, kommen. Und die wahrscheinlich mehr als 700 Abgeordneten werden aus ihrer Mitte die Nachfolgerin oder den Nachfolger der nicht mehr kandidierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel wählen.