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"Deutschland ist keine Erdogan-Kampfzone"

Richard A. Fuchs, Berlin (mit Agenturen)6. Juni 2016

Nach der Armenien-Resolution schimpft Erdogan gegen deutsche Parlamentarier mit türkischen Wurzeln. Im Netz erhalten diese Morddrohungen. Das trifft in Deutschland auf entschiedene Ablehnung - und kühles Unverständnis.

Türkischer Premierminister Recep Tayyip Erdogan in Köln im Jahr 2014 Foto: CHRISTOF STACHE/AFP/Getty Images
Bild: Getty Images/AFP/C. Stache

Was der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan über die deutschen Parlamentarier mit türkischem Familienhintergrund zum Besten gibt, sorgt in Deutschland für Empörung. Er hatte deutschen Abgeordneten wie Özan Mutlu (Grüne), Mahmut Özdemir (SPD), Cemile Giousouf (CDU) und anderen ihre türkische Identität abgesprochen. Der Grund: Sie haben am Donnerstag gemeinsam mit der Mehrheit des Bundestages für eine Resolution gestimmt, die den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich vor über 100 Jahren als solchen anerkennt. Zudem bekannte sich die Resolution zur "Mitschuld" des Deutschen Reiches an den Verbrechen des Vorgängerstaats der Türkei, bei denen über 1,5 Millionen Armenier zu Tode gekommen sind.

Weil Erdogan eine Einstufung der damaligen Verbrechen als Völkermord strikt ablehnt, sind die deutsch-türkischen Bundestagsabgeordneten jetzt zur Zielscheibe seiner Wut geworden. Erdogan forderte sie dazu auf, einen "Bluttest" zu machen. Sie müssten sich auf ihre türkische Identität hin überprüfen lassen, polterte er. "Ihr Blut ist unrein". Zuvor waren bei vielen der Abgeordneten Morddrohungen eingegangen.

Türkische Gemeinde: "Abscheulich und deplatziert"

"Morddrohungen und Bluttests finden wir abscheulich", sagte der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde, Gökay Sofuoglu, der Deutschen Presseagentur. "Ich denke, dass Leute nach Blut definiert werden, hat 1945 aufgehört. Das ist absolut deplatziert." Zuvor hatte Erdogan diese Parlamentarier bereits als Sprachrohr der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) diffamiert. Sie seien "der verlängerte Arm der Terroristen in Deutschland". Regierungssprecher Steffen Seibert kommentierte dies am Montag kühl und sachlich: "Wenn deutsche Parlamentarier mit türkischen Wurzeln in die Nähe dieser Terrororganisation gerückt werden, dann ist das für uns in keinerlei Hinsicht nachvollziehbar."

Türkische Gemeinde zu Erdogan-Aussagen

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Grünen-Parteichef Cem Özdemir, der als einer der Initiatoren der Resolution seit vergangenem Wochenende unter Polizeischutz steht, fordert eine gemeinsame Antwort. "Da erwarte ich, dass der ganze Bundestag sagt, das ist unser gemeinsamer Beschluss", so Özdemir im Sender SWR2. Sein Parteikollege Özcan Mutlu, der ebenfalls Ziel von Hassmails und Morddrohungen wurde, sagte: "Ich mache mir schon ernsthafte Sorgen, denn diese Qualität der Bedrohung habe ich nie erlebt." Es würden sich "irgendwelche durchgeknallten Verrückten" finden, die sich die Hetze des türkischen Präsidenten anhören und einen Befehl der Obrigkeit herauslesen: "So sind viele Menschen in der Türkei zu Tode gekommen."

Er und seine Familie brauchen Polizeischutz: Grünen-Parteichef Cem ÖzdemirBild: picture-alliance/dpa/R. Jensen

Steckbrief im Netz mit Dolchstoßlegende

Besonders im Netz wurden die türkischstämmigen Abgeordneten mit deutschem Pass Opfer von Hass und Diffamierung. Ein Steckbrief mit den Portraits der Parlamentarier verbreitet sich rasant und wurde tausendfach mit "Like" markiert. Über dem Steckbrief steht die Überschrift "SIRTIMIZDAN VURDULAR", zu Deutsch: "Diese [Abgeordneten] haben uns hinterrücks erstochen". Das will kaum zufällig an eine deutsche "Dolchstoßlegende" erinnern. In dieser Verschwörungstheorie führten deutsche Nationalisten die Weltkriegsniederlage 1918 nicht auf eine militärische Schwäche zurück, sondern auf einen "Dolchstoß von hinten". Sozialdemokraten, internationales Judentum und "vaterlandslose Demokraten" hätten damals das Deutsche Reich geschwächt und ins Unglück gestürzt.

So sehr Geschichtsvergleiche hinken, so sehr scheinen die Urheber dieser Twitter-Botschaft die geschichtlichen Parallelen selbst einzufordern. Das lässt sich auch am Hashtag "#ihanetcilervatandasliktanatilsin" ablesen, mit dem der Steckbrief verbreitet wird. Darin wird gefordert: "Diesen Verrätern muss man die [türkische] Staatsbürgerschaft entziehen". Eine Forderung, die von einem breiten Spektrum von Moderaten bis Rechtskonservativen und türkischen Nationalisten derzeit geteilt würde, sagen Türkei-Experten. Kurios daran: Alle deutschen Parlamentarier mit türkischen Wurzeln besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit - und nur wenige eine doppelte Staatsbürgerschaft. Mit an die Spitze der Kampagne stellte sich der Oberbürgermeister von Ankara. Melih Gökçek, Mitglied der AKP-Partei von Präsident Erdogan, ist für schrille, nationalistische Tweets bekannt und hat wiederholt kritische Journalisten in der Türkei als "ausländische Agenten" bezeichnet. Mit einem Tweet forderte er jetzt die deutschen Parlamentarier dazu auf: "Bewerbt euch doch für eine zweite Staatsbürgerschaft bei Armenien." Das ging an 3,25 Millionen Follower.

Linkspartei: Merkel soll durch Regierungserklärung antworten

Auch die Linkspartei zeigte sich vom Ausmaß der türkischen Verleumdungskampagne schockiert. Damit Deutschland keine "Kampfzone für den türkischen Präsidenten" werde, müsse die Bundeskanzlerin in einer Regierungserklärung antworten, forderten die Fraktionsvorsitzenden Sarah Wagenknecht und Dietmar Bartsch. Mit seinem Aufruf zu einem Bluttest für türkischstämmige Abgeordnete sei "eine Grenze überschritten" worden. Die Linke forderte Merkel dazu auf, klarzustellen, dass Deutschland sich "nicht von Despoten erpressen" lasse.

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