"Deutschland kann Tunesien nachhaltig unterstützen"
13. Februar 2017DW: An diesem Dienstag besucht der tunesische Ministerpräsident Youssef Chahed Bundeskanzlerin Angela Merkel. Chahed ist seit vergangenem August im Amt. Lässt sich bereits eine erste Bilanz ziehen?
Moncef Slimi: Dafür ist es nach den wenigen Monaten Amtszeit noch zu früh. Sagen kann man aber, dass er bemüht ist, politische und wirtschaftliche Reformen voranzubringen. Vor allem versucht er die Arbeitslosigkeit zu verringern, von der vor allem junge und ungelernte Tunesier betroffen sind. In besonders betroffenen Regionen sind über 30 Prozent der jungen Menschen ohne Arbeit - aus ihnen stammen die meisten derjenigen, die sich auf den Weg nach Europa machen. Die generelle Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent. Hinzu kommt das mangelnde Vertrauen von Unternehmern und Investoren.
Was genau schreckt die Investoren ab?
Die Unsicherheit, ob die Reformen durchkommen. Die Regierung setzt auf einen wirtschaftlichen liberalen Kurs, der den Gewerkschaften, allen voran der mächtigen UGTT, suspekt ist. So kommt es immer zu Spannungen und Streiks. Hinzu kommen organisierte Kriminalität und Korruption. Auf dem Korruptionsindex 2015 von Transparency International steht Tunesien derzeit auf Rang 75. Das ist kein sonderlich überzeugender Wert. Entsprechend zurückhaltend agieren die Investoren.
In Deutschland ist man derzeit etwas irritiert darüber, dass viele Tunesier nicht bereit sind, dschihadistische Staatsbürger zurückzunehmen. So verhielt es sich ganz offenbar auch im Fall von Amis Amri, der auf einem Berliner Weihnachtsmarkt zwölf Menschen tötete. Wie ist der derzeitige Stand der Diskussion?
Es wird nicht nur diskutiert - das Land ist in dieser Frage geradezu gespalten. Teile - und ich betone: Teile - der Zivilgesellschaft, aber auch einige Sicherheitsorgane sind in der Tat dagegen, tunesische Dschihadisten zurückzunehmen. Man muss allerdings sagen, dass einige Tunesier davon überzeugt sind, die dschihadistischen Attentäter in Europa wären auch oder sogar ausschließlich Bürger eines europäischen Staates - etwa Frankreichs oder Deutschlands. Das ist natürlich ein Missverständnis. Aber es erklärt, warum man bei einer Demonstration in Tunis ein Plakat sehen konnte, auf dem zu lesen stand, Tunesien sei nicht der Abfalleimer Deutschlands. Gleichzeitig sind die Demonstranten natürlich auch besorgt.
Inwiefern?
In Tunesien sind bei mehreren dschihadistischen Attentaten in den vergangenen Jahren über 300 Menschen getötet worden. Jetzt sorgen sich viele Bürger, dass in den nahöstlichen Konfliktzonen - etwa Irak und Syrien - ausgebildete Dschihadisten nach Tunesien zurückkehren und das Land ebenfalls in eine Kampfzone verwandeln könnten. Viele Bürger zweifeln zudem daran, dass die juristischen und polizeilichen Institutionen hinreichend gerüstet sind, um der Dschihadisten Herr zu werden. Der Vorsitzende der islamistischen Ennahda Partei, Rachid al-Ghannouchi, hat einmal erklärt, reuige Dschihadisten, die sich nicht des Mordes schuldig gemacht haben, sollten im Gefängnis an De-Radikalisierungskursen teilnehmen können. Tatsächlich nehmen derzeit rund 2000 Dschiahdisten an solchen Programmen teil. Viele Tunesier zweifeln aber am Erfolg solcher Programme. Hinzu kommt, dass die Gefängnisse hoffnungslos überfüllt sind. Außerdem sind sie für solche Art von Insassen nicht ausgelegt.
Wo sehen die Tunesier denn die Ursachen des Dschihadismus?
Diese Diskussion wurde im Umfeld der Rückführungsdebatte ebenfalls geführt. Eine Reihe von Tunesiern macht die Ennahda-Partei für die Ausbreitung des Dschihadismus in Tunesien wie auch für den Aufbruch gewaltbereiter Islamisten nach Syrien und den Irak verantwortlich. Derzeit vertritt die Nahda den Standpunkt, Tunesien müsse seine dschihadistischen Staatsbürger zurücknehmen. Viele Bürger trauen der Nahda aber nicht und fürchten, sie wolle die Dschihadisten für politische Zwecke missbrauchen.
Dieser Tage hat Amnesty International den tunesischen Behörden den willkürlichen Einsatz von Folter vorgeworfen. Einige dieser Fälle sind gut dokumentiert. In welchem Kontext finden diese Fälle statt?
Die Sicherheitskräfte sind noch nicht hinreichend reformiert. Gerade Deutschland unterstützt Tunesien bei diesen Reformen. Aber bislang gehen sie noch zu langsam voran. Und das bislang Erreichte zeigt noch keine Wirkung. In der Tat erwähnt Amnesty International ja 23 konkrete Fälle. Hinzu kommt: Tunesien befindet sich immer noch in einem Übergangsprozess von der Diktatur zur Demokratie. Man spricht auch noch von einer "justice transitionelle", einer "Übergangsjustiz". In Tunesien gibt es die "Instance de verité et dignité", eine "Kommission für Wahrheit und Würde". Diese arbeitet auch die nun bekannt gewordenen Fälle auf. Bislang aber kooperieren die Sicherheitsbehörden mit dieser Kommission nicht wirklich gut. Insofern zeigen sich Teile der Zivilgesellschaft sehr besorgt. Sie fürchten, die Sicherheitsbehörden könnten als gewissermaßen "Unberührbare" jenseits des Rechtsstaats stehen. Hinzu kommt, dass Tunesien ein schwacher Staat ist, für den der Terrorismus eine sehr reale Bedrohung darstellt. Weil die Schutzmechanismen des Rechtsstaats noch nicht hinreichend entwickelt sind, nehmen Teile der Sicherheitsbehörden das zum Vorwand, um zu den Methoden der Vergangenheit zurückzukehren.
Wo könnte Deutschland Tunesien besonders effektiv unterstützen?
Deutschland kann Tunesien in vielerlei Hinsicht auf wirkungsvolle Weise nachhaltig unterstützen. Das gilt in ökonomischer und politischer Hinsicht, ganz besonders aber auch bei der Entwicklung der Institutionen. Deutschland hat durch die Wiedervereinigung große Erfahrung in der Umwandlung einer Diktatur in einen Rechtsstaat. Diese Erfahrungen sind nun in Tunesien von hohem Nutzen.
Moncef Slimi ist Mitglied der arabischen Redaktion und Maghreb-Experte der Deutschen Welle. Er ist selbst Tunesier.
Das Interview führte Kersten Knipp.