Vor 90 Jahren: Tödliche "Nürnberger Gesetze" der Nazis
14. September 2025
Wer ist Deutscher? Wie wird man Deutscher? Darüber streiten die Deutschen seit Jahrhunderten.
Das Grundgesetz hat die Frage eigentlich nüchtern und knapp entschieden: Deutscher ist, wer einen deutschen Pass hat. Die Staatsangehörigkeit kann ihm nicht entzogen werden. Und eine Benachteiligung von Staatsbürgern aufgrund ihrer Religion, ihrer Herkunft oder ihrer Sprache verstößt gegen die Grundwerte der Verfassung.
Es ist eine der Lehren aus der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten von 1933 bis 1945, die vor allem die jüdische deutsche Bevölkerung, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, sozial benachteiligte Menschen und politische Gegner systematisch entrechteten, terrorisierten und ermordeten. Ihnen wurde ihr Deutsch-Sein willkürlich abgesprochen.
Historiker: AfD schließt "nahtlos an Nazi-Ideologie an"
Besorgniserregend: 80 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft wird der Grundwert der Gleichheit aller Deutschen zunehmend in Frage gestellt.
"Ob man Deutscher ist, entscheidet sich zwischen den Ohren, nicht auf dem Papier", erklärte etwa Stefan Möller, der Landesvorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD) von Thüringen, im Juli 2023 auf der Plattform X. Die Aussage stellt die Gleichheit der Deutschen in Frage. Sie ist eines von hunderten Gründen, warum zahlreiche deutsche Gerichte die Verfassungsfeindlichkeit von Teilen der AfD immer wieder bestätigt haben.
Der Historiker Rolf-Ulrich Kunze vom Karlsruher Institut für Technologie, einer Exzellenzuniversität im Südwesten Deutschlands, sieht die AfD auch wegen solcher Aussagen in einer historischen Kontinuität: "Aus meiner Perspektive schließt die Programmatik der AfD nahtlos an diese NS-Ideologie an", erklärt der Professor für neuere deutsche Geschichte im Interview mit der DW. "Damals war es die Unterscheidung in Reichsbürger und Staatsbürger, die im sogenannten Reichsbürgergesetz der Nürnberger Gesetze geregelt wurde. Das ähnelt direkt der AfD-Vorstellung von einer Unterscheidung zwischen 'richtigen Deutschen' und 'Passdeutschen'."
Als Adolf Hitler am 15. September 1935 in Nürnberg seine sogenannten "Rassengesetze" durch das gleichgeschaltete Parlament verabschieden ließ, war die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung längst Alltag. Hitlers paramilitärische Truppen terrorisierten Menschen auf offener Straße, die ersten Konzentrationslager waren schon eröffnet. Aber die Gesetze zur Entrechtung der jüdischen Bevölkerung waren trotzdem ein maßgeblicher Schritt auf dem Weg zur deutschen Vernichtungspolitik.
Nürnberger Gesetze: Verrechtlichung des Unrechts
"Es war das, was wir heute die Verrechtlichung des Unrechts bezeichnen", erklärt Kunze.
Die Gesetze hatten zwei maßgebliche Inhalte: Zum einen haben sie der jüdischen Bevölkerung die Eheschließung mit sogenannten 'Ariern' verboten und stellten selbst sexuelle Kontakte unter Strafe. Darüber hinaus galten für Juden nicht mehr die gleichen Rechte. Denn sie blieben zwar noch deutsche Staatsangehörige, aber sie waren keine Reichsbürger mehr. Dadurch verloren sie ihre politischen Rechte und wurden zu Bürgern zweiter Klasse erklärt.
"Es geht um eine Theorie der Überlegenheit der sogenannten weißen Rasse über alle anderen, ihre Selbstermächtigung zur Herrschaft über die Welt", erläutert Rolf-Ulrich Kunze. "Diese Art des Abstammungsrassismus ist ein direktes Produkt der ältesten Form von Diskriminierung, die wir in der europäischen Kulturgeschichte überhaupt kennen, nämlich des Antisemitismus."
In der gesellschaftlichen Wirklichkeit führten die Gesetze zu einem irrwitzigen Deklinationsprozess, wer genau als Jude zu gelten habe. Die Juristen der NS-Bürokratie unterschieden dabei in "Deutschblütige", "Mischlinge 1. Grades", "Mischlinge 2. Grades", "Vierteljuden". Am Ende entschieden die Kategorien über Leben und Tod.
Abstammungsrassismus in Deutschland immer noch nicht überwunden
Auch wenn 1945 mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg über Nazi-Deutschland die Vernichtungspolitik endete und die Deutschen sich eine neue, freiheitliche Verfassung gaben: Überwunden scheint Abstammungsrassismus bis heute nicht.
"Manche Menschen sind in Deutschland gleicher als andere", kritisiert Karen Taylor im Interview mit der DW. Sie ist die Vorsitzende der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen. "Plakativ gesprochen: Das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes gilt faktisch vor allem für Menschen mit 'deutschem Blut'. Besonders migrantische Menschen erleben, dass sie nicht in gleichem Maße geschützt sind.“
Forderungen der radikalen Rechten, Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen zu können, bestärken diesen Eindruck.
Migration: über positive Seiten reden
Was braucht es, um Abstammungsrassismus in der Gesellschaft zu überwinden? "Wir reden zu selten über die positiven Seiten von Migration", findet Karen Taylor. "In Berlin sind wir stolz, dass man in der Stadt kulinarisch durch die Welt reisen kann, und im Kulturbereich auf unsere Vielfalt. Aber Migration ist mehr als Essen und Kulturprogramme: Es geht um Menschen, ihre Geschichten und Traditionen, die Deutschland nachhaltig bereichern."
Karen Taylor appelliert: Zur Überwindung rassistischer und antisemitischer Vorurteile gegenüber Teilen der deutschen Gesellschaft müsste jeder Einzelne seinen Teil beitragen: "Es ist falsch, auf den Staat zu warten. Jede und jeder von uns – in Schule, Verein und Alltag – kann Verantwortung übernehmen."