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GesellschaftDeutschland

Deutschland: weniger rechtsextrem, aber ausländerfeindlicher

9. November 2022

Die widersprüchlich klingenden Ergebnisse einer Leipziger Studie sind Spiegelbild einer verunsicherten Gesellschaft in Zeiten von Ukraine-Krieg und Corona.

Ein Mann mit schwarzem Kapuzenpulli und dem Schriftzug "Deutsches Reich" auf dem Rücken beteiligt sich an einem rechtsextremen Aufzug.
Demonstrativer Rechtsextremismus: "Deutsches Reich" und ein Adler auf einer Fahne in den Farben der ReichskriegsflaggeBild: Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Wie verbreitet sind rechtsextreme und demokratiefeindliche Einstellungen in Deutschland? Eine ausführliche Antwort auf diese Frage findet sich in der Studie "Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten" der Universität Leipzig. Seit 2002 findet die repräsentative Umfrage statt. Alle zwei Jahre will ein Team um Oliver Decker und Elmar Brähler vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung wissen, wie stabil das politische System ist.

Gute und schlechte Nachrichten aus dem Osten

Dieses Mal ist das Fazit zwiespältig – es hat Licht und Schatten: "Die Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen nimmt nicht nur im gesamten Bundesgebiet ab, sondern insbesondere in Ostdeutschland." Nur noch zwei Prozent der Ostdeutschen zeigten ein geschlossenes, rechtsextremes Weltbild im Sinne einer neonationalsozialistischen Ideologie. 2020 seien es noch rund zehn Prozent gewesen. "Das ist eine gute Nachricht, aber nur das halbe Bild", betont Studienleiter Decker.

Denn gleichzeitig hätten Ressentiments gegen jene, "die als 'anders' empfunden werden, sogar zugenommen", ergänzt Kollege Brähler. Demnach ist der Prozentsatz der "manifest ausländerfeindlich" eingestellten Menschen in Ostdeutschland von 27,8 Prozent auf 31 Prozent gestiegen. In Westdeutschland ist er im gleichen Zeitraum von 13,7 Prozent auf 12,6 Prozent gesunken. Zwei von fünf Ostdeutschen meinen, Deutschland sei "durch die vielen Ausländer überfremdet". So sieht es auch fast ein Viertel der Westdeutschen. 

Hohe Zustimmung zur Demokratie - theoretisch

Beim Blick auf die über 300 Seiten der Studie entsteht ein Bild Deutschlands im "Krisenmodus", wie an einer Stelle zu lesen ist. Das schlägt sich nach Einschätzung der Studienleiter in weiteren paradox erscheinenden Befunden nieder. So seien insgesamt 82 Prozent mit der Demokratie, wie sie in der Verfassung beschrieben ist, zufrieden. Im Osten sind es sogar 90 Prozent. Aber diese Werte gingen einher mit dem Gefühl, keinen politischen Einfluss zu haben. Dazu passt, dass nur die Hälfte mit der im Alltag erlebten Demokratie einverstanden ist.

Aus Deckers und Brählers Sicht fügt sich diese Wahrnehmung ein in das seit 2020 zu beobachtende Krisen-Bild der Corona-Pandemie und dem 2022 hinzugekommenen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Antidemokratische Motive kämen zum Vorschein: Vorurteile und Hass auf "Andere", der von rechtsextremen Parteien bedient werde. Klassische Feindbilder sind Juden, Muslime, Sinti und Roma

Frauenfeindlichkeit nimmt zu

Auch die Zustimmung zu antifeministischen Aussagen ist hoch. So teilen 27 Prozent der Befragten die Auffassung, dass Frauen, "die mit ihren Forderungen zu weit gehen, sich nicht wundern müssen, wenn sie wieder in ihre Schranken gewiesen werden". Studienleiter Decker registriert insgesamt eine Verschiebung der Motive antidemokratischer Einstellungen, "nicht eine Stärkung der Demokratie". Neben der Ausländerfeindlichkeit hätten Rechtsextreme heute viel mehr Möglichkeiten, "in der Mitte der Gesellschaft Anschluss zu finden, nicht weniger".

Hasskriminalität im Netz

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Zudem sei die Gesellschaft immer noch durch Corona polarisiert. Man finde autoritäre Reaktionen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie aber nicht nur bei Menschen mit Verschwörungsglauben, sondern auch weit darüber hinaus. In der Studie heißt es dazu: "Durch die Proteste gegen die Präventionsmaßnahmen der Bundesregierung sind die Verschwörungserzählungen zur Grundlage einer breiten Mobilisierung geworden. Sie wurden von organisierten Rechtsextremen genutzt, fanden aber auch in anderen politischen Milieus Anklang."

Feindbild in Corona-Zeiten: Ungeimpfte

Auch unter den Befürwortern der Präventionsmaßnahmen, insbesondere der Impfungen, fänden sich autoritäre Reaktionen. Die Wut zögen jene auf sich, die gegen diese Konventionen verstießen, nicht zuletzt die "Ungeimpften". Positiv bewerten die Forscher den deutlich rückläufigen Anteil der Befragten mit einer Verschwörungsmentalität: von 38,4 Prozent im Jahr 2020 auf 25 Prozent im Jahr 2022.

Insbesondere durch das Internet werde der politische Diskurs von zwei Gruppen dominiert: Einer Gruppe von 13 Prozent Impfgegnern stünden 19 Prozent gegenüber, die starke Ressentiments gegen Impfgegner hätten. "In beiden Gruppen sind die Ressentiments nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen viele 'Andere' gleichermaßen stark ausgeprägt."

Reaktionen auf den Ukraine-Krieg 

Eine ähnliche Fragmentierung der Gesellschaft beobachten Decker und Brähler zum Teil auch in den Reaktionen auf den Ukraine-Krieg. Ausdrückliche Bellizisten, also Kriegstreiber, fänden sich zwar nicht, "aber die Unterstützer von Waffenlieferungen an die Ukraine auf der einen Seite und die Russland-Sympathisanten auf der anderen eint ebenfalls eine generell höhere Neigung zu autoritären Aggressionen". 

Politisch profitiert nach Einschätzung des Studien-Teams die Alternative für Deutschland (AfD) am meisten von der krisenhaften Entwicklung – und das nicht zum ersten Mal. Schon 2015 sei sie wegen der von ihr abgelehnten Zuwanderung zu einer national-völkischen Partei geworden. "Das Ressentiment gegen Migrantinnen und Migranten half ihr ebenso wie ihre gewaltbereite Rhetorik."

Die Rolle der AfD

Festzuhalten sei aber auch: Die AfD oder andere rechtsextreme Parteien könnten Ressentiments in Dienst nehmen, manipulieren und instrumentalisieren – hervorbringen könnten sie diese nicht. "Und auch die Frage, wann und unter welchen Umständen dieser Hass in Handlung umschlägt, hängt mit gesellschaftlichen Bedingungen zusammen."

Oktober 2022: Spitzenpersonal der Alternative für Deutschland (AfD) protestiert gegen die Krisen-Politik der BundesregierungBild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Schon in den frühen 1990er spitzte sich die Lage zu. Auch daran wird in der aktuellen Studie erinnert: "In Ost- wie Westdeutschland kam es zu massiven Gewalttaten und Morden an Migrantinnen und Migranten, Neonazis errichteten selbsternannte 'national befreite Zonen'." Diese Entwicklung kurze Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung veranlasste Oliver Decker und Elmar Brähler zu ihren Untersuchungen.  

Einstiegsdrogen in den Rechtsextremismus

Seitdem wollen sie regelmäßig wissen, wie weit politische Motive einer neo-nationalsozialistischen Ideologie und Vorurteile gegenüber Fremden in der Bevölkerung verbreitet sind. Schon in der ersten Studie war das Ergebnis eindeutig: Die Ideologie der Ungleichwertigkeit wurde in der "Mitte" der Gesellschaft geteilt. Insbesondere Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus seien "Einstiegsdrogen in den Rechtsextremismus".

Aber auch offener Antisemitismus war damals, zu Beginn des Jahrtausends, bei mehr als jedem zehnten Deutschen anzutreffen – in Westdeutschland zunächst häufiger als in Ostdeutschland. 20 Jahre später fragt sich das Experten-Team, ob auf die Differenzierung zwischen ost- und westdeutschen Ergebnissen "ein so hervorhebender Fokus gesetzt werden soll"? Die Antwort: Man habe sich dafür entschieden, "weil die Zahlen auch über dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer eine unterschiedliche politische Einstellung in Ost- und Westdeutschland ausweisen".

Andere Lebensbedingungen in Ostdeutschland

Jedoch wird betont, dass diese Befunde "wenig mit Ostdeutschen, sondern vor allem mit den Lebensbedingungen in Ostdeutschland" zu tun hätten. Hohe Werte bei rechtsextremen Einstellungen gingen einher mit einer hohen Arbeitslosenquote, einem niedrigen Frauenanteil und einem geringeren Anteil an Schutzsuchenden. "All diese Strukturmerkmale sind in ostdeutschen Kreisen eher anzutreffen als im Westen."

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