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Politik

Deutschland schrumpft nicht

Richard A. Fuchs
3. Februar 2017

Lange galt als sicher: Deutschlands Bevölkerung schrumpft, weil es zu wenig Geburten gibt. Mehr Zuwanderung und höhere Geburtenraten haben diese Prognose inzwischen überholt. Ist die demografische Krise damit abgewendet?

Passanten in der Fußgängerzone
Bild: picture-alliance/dpa

Viele Jahre galt eine Prognose als gesichert: Deutschlands Einwohnerzahl wird langfristig schrumpfen. Grund für die Entwicklung seien dauerhaft niedrige Geburtenraten und eine zu geringe Zuwanderung, hieß es beim Statistischem Bundesamt und Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Bei gleichbleibenden Geburtenraten (1,4 Kinder je Frau) und einer Zuwanderung von 100.000 Menschen pro Jahr wäre Deutschland damit 2060 nicht mehr Heimat von rund 80 Millionen, sondern gerade einmal noch 68 Millionen Einwohnern gewesen.

Doch diese Schrumpfkur scheint jetzt laut überarbeiteter Szenarien der Bundesregierung auszubleiben. Diese wurden in der aktuellen demographisch-politischen Bilanz im Bundeskabinett vorgestellt. Der Tenor: Anhaltend hohe Zuwanderung und eine jüngst gestiegene Geburtenrate können die Bevölkerungszahl des Landes bis 2060 stabil halten.

Stabile Einwohnerzahl bis 2060

Bislang gingen die Statistiker von einem jährlichen Einwanderungsplus von 100.000 bis 200.000 Menschen aus. Neuerdings schätzt die Bundesregierung allerdings, dass dieses eher bei 300.000 Menschen pro Jahr liegen dürfte.

Auch bei der Geburtenrate zeigt sich laut Regierung ein Aufwärtstrend. Der seit Jahrzehnten andauernde Rückgang scheint vorerst gestoppt. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass derzeit 1,6 Kinder je Frau geboren werden. Im Bericht heißt es dazu: "Bei einem Wanderungssaldo von 300.000 kombiniert mit einer Geburtenrate von 1,6 und einem stärkeren Anstieg der Lebenserwartung würde die Einwohnerzahl in Deutschland bis 2060 ungefähr auf dem heutigen Stand stabil bleiben." 

Arbeitskräfte der Zukunft? Der Weg für viele Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt führt über Sprachkurse Bild: picture-alliance/dpa/M. Hadem

Mächtig durcheinandergewirbelt hat die Langfrist-Prognosen der große Zuzug von Flüchtlingen in den vergangenen zwei Jahren. 2015 verzeichnete die Bundesrepublik ein Einwanderungsplus von mehr als einer Million Menschen, ausgelöst durch die Zuwanderung von Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. 2016 lag der Saldo bei 750.000 Menschen.

Zum Vergleich: Zwischen 1990 und 2008 wanderten aus Deutschland jedes Jahr mehr Menschen aus als hinzuzogen. "Das Migrationsgeschehen der letzten Jahre hat dazu beigetragen, dass die Bevölkerungszahl insgesamt gestiegen ist", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) bei der Vorstellung des Berichts in Berlin. Und so konnten die Statistiker zuletzt einen neuen Rekordstand vermelden. Ende 2016 lebten 82,8 Millionen Menschen in Deutschland.

Überalterung: Ein Beben für den Arbeitsmarkt

Ist die viel beschworene demografische Krise damit abgewendet? Der Innenminister verneint. Trotz Zuwanderung und steigender Geburtenrate: Die durchschnittliche Alterung der Bevölkerung wird nach den neuen Annahmen der Bundesregierung deutlich fortschreiten. So würde der Altenquotient bei einem Wanderungsgewinn von 300.000 Personen nur moderat geringer ausfallen als bei den Varianten mit geringerer Zuwanderung, heißt es in dem Bericht. Im Durchschnitt der vergangen Jahre erhöhte sich die Lebenserwartung der Deutschen um knapp 2,6 Monate pro Jahr. Für Männer beträgt sie 78,2 Jahre, für Frauen 83,1 Jahre.

Mit der wachsenden Lebenserwartung wachsen auch die Herausforderungen der sozialen Absicherung: Rente und Pflegeleistungen müssen für die wachsende Zahl der Älteren finanziert werden. Zuwanderer müssen in den Arbeitsmarkt integriert werden, und für Inländer wie Neuzugezogene müssen ausreichend Wohnungen vorhanden sein. "Dabei setzen wir auf eine hohe Erwerbstätigkeit, auf Bildung, auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie, aber auch auf die soziale Sicherung im Alter", erklärte der Innenminister.

Professor Enzo Weber, Bevölkerungsforscher vom Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB), sieht vor allem auf den Arbeitsmarkt riesige Probleme zukommen. "In naher Zukunft werden in wenigen aufeinanderfolgenden Jahren dreizehn Millionen Babyboomer die Regelaltersgrenze erreichen", sagt Weber im Interview mit der DW. Dreizehn Millionen Neurentner, die aus dem Arbeitsmarkt und der Erwerbsbevölkerung herausfallen.

Diese Lücke könne nicht durch höhere Geburtenraten, sondern nur durch Zuwanderung geschlossen werden, so der Forscher. "Selbst wenn sie mit dem Finger schnippen und die Geburtenrate auf 2,5 Kinder je Frau erhöhen, würde das den demografischen Wandel im Arbeitsmarkt für die nächsten zwanzig Jahre nicht aufhalten." Dieser schrumpfe deutlich schneller als die Gesamtbevölkerung, weil das Eintrittsalter für die Rente um die 65 Jahre pendelt.

Für den Arbeitsmarkt bedeutet das: Um die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland (derzeit ein Rekordwert von 43,8 Millionen) auch nur annähernd stabil zu halten, müssten jedes Jahr 400.000 Menschen mehr einwandern als abwandern. Die Integration von so vielen Einwanderern in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft könne die Gesellschaft aber auch überfordern, sagt der Forscher nüchtern und geht deshalb eher von einem deutlichen Rückgang der Erwerbszahlen aus.

Die Fachkräfte gehen in Rente

Diese Rentnerin hat ihr Arbeitsleben hinter sich gelassen. Aber wo kommen die Arbeitskräfte von morgen her? Bild: imago/Gerhard Leber

Mit fatalen Folgen, insbesondere für bestimmte ländliche Gebiete und manche Branchen. "Der Arbeitsmarkt wird vielerorts austrocknen und ganze Wertschöpfungsketten, die auf eine gewisse Mindestgröße angewiesen sind, können in ziemlich kurzer Zeit kollabieren." Vermieden wurde all dies in den vergangen Jahren nur durch Sonderfaktoren, wie beispielsweise den Zuzug von Süd- und Osteuropäern im Zuge der Eurokrise oder die Neuankömmlinge der Flüchtlingskrise. "Das wird aber nicht ewig so bleiben", warnt der Forscher.

Ein Demografie-Gipfel der Bundesregierung will am 16. März in Berlin ausloten, wie Behörden, Wirtschaft und Gesellschaft sich diesen Herausforderungen stellen können. Forscher Enzo Weber drängt auf flexible Lebensarbeitszeitmodelle und eine konsequente Weiterentwicklung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Am Ende könnte aber manche ach so lieb gewordene Gewissheit dann doch noch Opfer dieser Entwicklung werden, schätzt der Forscher. Er zählt dazu das einheitliche Renteneintrittsalter, was für künftige Generationen vielleicht ein Relikt der Vergangenheit darstellen wird. 

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