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Politik

Berlin stoppt Abschiebungen nach Afghanistan

11. August 2021

Der rasante Vormarsch der Taliban hat zum Umdenken in der Bundesregierung geführt. Das Auswärtige Amt erstellt derzeit einen neuen Lagebericht zu Afghanistan.

Ein Afghane wird auf dem Flughafen Leipzig-Halle in einen Jet Richtung Kabul gebracht
Ein Afghane wird auf dem Flughafen Leipzig-Halle in einen Jet Richtung Kabul gebracht Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Wegen der dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan schiebt Deutschland vorerst keine abgelehnten Asylbewerber mehr dorthin ab. "Der Bundesinnenminister hat aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden, Abschiebungen nach Afghanistan zunächst auszusetzen", sagte ein Sprecher des Ministeriums der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Eine in der vergangenen Woche verschobene Abschiebung von sechs Afghanen wird zunächst nicht mehr nachgeholt.

Mit seiner Entscheidung vollzog Seehofer einen radikalen Kurswechsel. Noch vor wenigen Tagen hatte er sich dafür ausgesprochen, die Abschiebungen nach Afghanistan zumindest für Straftäter fortzusetzen - ungeachtet des Vormarsches der Taliban. Die Entscheidung des CSU-Politikers kam offenbar auch für sein Ministerium überraschend. Weniger als zwei Stunden vor Bekanntwerden der Aussetzung hatte Seehofers Sprecher auf einer Pressekonferenz mit Blick auf ausreisepflichtige Afghanen gesagt, das Ministerium sei "weiterhin der Auffassung, dass es Menschen in Deutschland gibt, die das Land verlassen sollten, so schnell wie möglich". 

Alle EU-Botschafter in Kabul für Stopp

Die in Kabul vertretenen EU-Botschafter hatten sich erst am Dienstag für einen Abschiebestopp ausgesprochen. Auch 26 Organisationen, darunter Amnesty International, Pro Asyl, Caritas und die Diakonie, plädierten in einer gemeinsamen Erklärung dafür. 

Protest von Abschiebungskritikern in Hamburg (Archivbild)Bild: Alexander Pohl/NurPhoto/picture alliance

Das Auswärtige Amt erstellt derzeit einen neuen Asyllagebericht für Afghanistan, der normalerweise die Hauptgrundlage für die Entscheidung über Abschiebungen ist. Dieser Bericht liegt aber noch nicht vor. Seit 2016 sind mehr als 1000 Migranten nach Afghanistan zurückgebracht worden, überwiegend verurteilte Straftäter.

Auch Faisabad in der Hand der Taliban 

Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan Mitte April dramatisch verschlechtert. Die militant-islamistischen Taliban haben inzwischen wieder neun Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht.

Es war einmal...: das deutsche Feldlager in Faisabad auf einem Foto von April 2012Bild: Can Merey/dpa/picture alliance

Darunter war zuletzt auch Faisabad in der gebirgigen Provinz Badachschan im Norden des Landes, wo die Bundeswehr auch früher stationiert war. Die Eroberungen geschahen innerhalb nur einer Woche.  

Hunderte ergeben sich nahe Kundus

In der Nähe von Kundus - ebenfalls früher ein Bundeswehr-Standort - ergaben sich hunderte afghanische Sicherheitskräfte mit ihrer Ausrüstung den Taliban. Ein Armeeangehöriger sagte der Nachrichtenagentur AFP: "Es gab keine Möglichkeit zu kämpfen." Seine Einheit habe sich angesichts des heftigen Mörserbeschusses am Flughafen von Kundus zur Kapitulation gezwungen gesehen. Zwar hält sich noch eine unbekannte Anzahl an Regierungstruppen in einer Kaserne außerhalb der Stadt auf, eine schnelle Rückeroberung von Kundus wird mit der Kapitulation jedoch unwahrscheinlicher. 

Taliban-Kämpfer patrouillieren in der Stadt Farah im Westen AfghanistansBild: Mohammad Asif Khan/AP/dpa/picture alliance

Auch rund um Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr zuletzt ihr größtes Feldlager hatte, wurde in den vergangenen Tagen heftig gekämpft.

Kabul bis November von Islamisten erobert?

Der US-Geheimdienst geht von einem raschen weiteren Vormarsch der Taliban aus. Aus Kreisen des Verteidigungsministeriums verlautete, einer neuen Einschätzung zufolge könnten die Islamisten die Hauptstadt Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen einnehmen. Diese Entwicklung sei aber nicht zwangsläufig. Die Sicherheitskräfte der Regierung könnten mit einem entschlosseneren Entgegentreten für eine Wende
sorgen, hieß es.

Fast 1800 Ortskräfte in Deutschland

Unterdessen kommen weitere mit einem Visum ausgestattete afghanische Mitarbeiter von Bundeswehr und Polizei in Deutschland an. Wie das Verteidigungsministerium in Berlin mitteilte, reisten bis Dienstag mindestens 353 dieser Ortskräfte mit 1.433 Angehörigen in Deutschland ein - also insgesamt 1.786 Personen. Das Auswärtige Amt hat nach eigenen Angaben rund 2.400 Visa ausgeteilt.

Ein Bundeswehr-Soldat und sein afghanischer Dolmetscher (r.) nahe Kundus im Gespräch mit einem Einwohner (Archivfoto)Bild: Maurizio Gambarini/dpa/picture alliance

Das Einsatzführungskommando der Bundeswehr habe ferner ein Call-Center mit Sprachmittlern eingerichtet, über das versucht werde, die afghanischen Mitarbeiter zu erreichen, um sie gegebenenfalls unterstützen zu können. Eine Hürde sei derzeit, dass die afghanischen Behörden Passdokumente nicht immer so ausstellten, wie es benötigt werde. Die Bundesregierung hat versprochen, allen afghanischen Mitarbeitern von Bundeswehr und Polizei, die ab 2013 ein Visum für Deutschland angestrebt haben, dieses zu bewilligen. Damit sollen die Helfer nach dem Abzug der internationalen Truppen vor Racheakten der Taliban geschützt werden. Laut dem Innenministerium muss aber vor der Visa-Erteilung insbesondere bei den Angehörigen der Ortskräfte eine Sicherheitsüberprüfung erfolgen.

sti/ehl (dpa, afp, rtr, epd)