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Deutschland, Silvester und die Flüchtlinge

Kate Brady (dch)30. Dezember 2015

Die Deutschen sind Weltmeister im Abfeuern von Raketen. Experten befürchten jedoch, dass die massenhafte Knallerei zum Jahresbeginn bei Kriegsflüchtlingen böse Erinnerungen wachrufen könnte.

Feuerwerk (Foto: imago/Michael Schulz)
Bild: imago/Michael Schulz

Wenn es um das Abfeuern von Silvesterraketen geht, stellen die Deutschen ganz Europa in den Schatten. Im Gegensatz zum gängigen Klischee des gut organisierten und wohl erzogenen Deutschen, lassen sie es in der Neujahrsnacht richtig krachen. Von lauten China-Böllern über Raketen, die aus der Hand abgefeuert werden, bis hin zu Knallfröschen, ist alles dabei. Die Leute sind so außer Rand und Band, dass in den meisten Innenstädten ein Durchkommen kurz vor Mitternacht kaum möglich ist.

Dieses Jahr jedoch warnen Psychologen, Städte und Gemeinden vor den Auswirkungen, die die wilde Knallerei auf die vielen Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten nach Deutschland gekommen sind, haben könnte. Die lauten Knallgeräusche könnten bei den Neuankömmlingen böse Erinnerungen an vergangene Kriegserlebnisse wachrufen. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) warnt, dass nahezu die Hälfte aller Flüchtlinge an posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen leidet.

Flüchtlinge werden vorgewarnt

Die Stadt Arnsberg in Nordrhein-Westfalen hat deswegen bereits reagiert und den Gebrauch von Feuerwerksraketen in der Nähe von Flüchtlingsheimen komplett verboten. Der Sprecher der Stadt, Christian Söbbeler, weist im DW-Interview vor allem auf den erhöhten Stressfaktor hin, den Pyrotechnik bei Asylsuchenden auslösen könnte: "Diejenigen, die aus Regionen kommen, in denen Krieg herrscht, verbinden mit diesen Knallgeräuschen eher Bombenexplosionen und Gewehrschüsse als Neujahrsfeierlichkeiten".

Viele Städte im Bürgerkriegsland Syrien wurden durch die anhaltenden Kämpfe zerstörtBild: picture-alliance/Syrian Arab News Agency

In einer Unterkunft in Troisdorf, in der Nähe von Bonn, kommen die meisten der Flüchtlinge ursprünglich aus Afghanistan. Olaf Conrady ist Fotograf und hilft freiwillig im Flüchtlingslager aus. Mit Flyern haben er und andere Helfer die Flüchtlinge in Troisdorf bereits über die anstehenden Feuerwerke informiert: "Wir haben zusätzlich noch mit ihnen darüber gesprochen, dass es wahrscheinlich zu mehr Rettungswageneinsätzen kommen wird. Wir haben sie extra darauf hingewiesen, dass die meisten der Verletzungen aber harmlos sind."

In Leipzig hat es bereits Kritik an dem Verbot gegeben, vor Flüchtlingsheimen Feuerwerkskörper abzufeuern. Man wolle den Menschen nicht den Spaß verderben, sagt der Sprecher der Johanniter Dietmar Link, es ginge hier lediglich um das Wohlbefinden vieler Neuankömmlinge: "Wenn man sich vor Augen führt, was vor allem die Kinder durchgemacht haben, die aus Kriegsregionen geflohen sind, sollte es verständlich sein, dass man Rücksicht nimmt."

Dr. Joachim Bauer von der Universität Freiburg hält es für richtig, Geflüchtete auf die ankommenden Neujahrsfeierlichkeiten vorzubereiten: "Posttraumatische Belastungsstörungen können ohne Weiteres durch bestimmte Bilder, Gerüche oder Geräusche ausgelöst werden", so der Psychologe im Interview mit der DW: "Die gängigsten Symptome sind Panikattacken, Angstzustände und unkontrollierbares Zittern des gesamten Körpers. Daher ist es nur sensibel, Feuerwerke in der Nähe von Flüchtlingsheimen zu verbieten."

Knallerei erinnert an Bomben

Majid Abdul Wahid aus Syrien ist mit ihren beiden Söhnen vor einem Monat nach Deutschland gekommen. Obwohl die 35-Jährige während ihres zehnmonatigen Aufenthaltes im Libanon fast jedes Wochenende Feuerwerke anschaute, macht ihr jetzt vor allem die Lautstärke Angst. "Meine sechsjährige Tochter mag diese Knallerei überhaupt nicht", so Abdul Wahid. "Egal wie hübsch sie auch anzusehen sind, sie erinnern uns zu sehr an die Bomben auf Aleppo".

Der Bonner Psychologe Kurt Hemmer hält ein Verbot von Feuerwerken dagegen für übertrieben. "Die wenigsten Flüchtlinge leiden unter solchen Belastungsstörungen. Sie wären ansonsten gar nicht in der Lage gewesen, eine solch beschwerliche Reise auf sich zu nehmen", so Hemmer im Interview mit der DW. "Theoretisch könnten die Feuerwerke Erinnerungen an die Konflikte wachrufen, aber nicht in dem Ausmaß, dass sich die Flüchtlinge wieder in ihre vom Krieg zerstörten Heimatländer zurückversetzt fühlten".

Vor allem Kinder und Jugendliche aus Kriegsgebieten sind häufig traumatisiertBild: picture-alliance/dpa/P. Steffen

Doch nicht alle Flüchtlinge schauen den Feierlichkeiten zum neuen Jahr mit Schrecken entgegen. Sameer, der aus dem syrischen Kobane nach Aachen geflohen ist, freut sich sogar: "Ich will nur wissen, wo gefeiert wird!", sagt Sameer: "Ich will wie alle anderen draußen sein und die Feuerwerke anschauen."

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