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Politik

Wie 2015 Deutschland veränderte

Patrick Große mit dpa
11. Februar 2019

Hunderttausende Flüchtlinge suchen Zuflucht in Deutschland. Die Kanzlerin entscheidet, die Menschen ins Land zu lassen. Eine Entscheidung, die polarisiert. Das Jahr 2015 wirkt noch lange nach. Ein Rückblick.

Ankunft von Flüchtlingen am Bahnhof München
Merkel als Hoffnungsbringerin: Flüchtlinge kommen im September 2015 am Münchener Hauptbahnhof anBild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Die Flüchtlingsbewegung trifft viele in Europa unvorbereitet. Dabei sind die Anzeichen für die drohende humanitäre Krise unübersehbar. Die Lage im Bürgerkriegsland Syrien spitzt sich im Sommer 2015 dramatisch zu. Über vier Millionen Menschen sind zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Flucht - auch aus Eritrea und dem Irak. Und immer mehr Menschen aus Nordafrika wählen in ihrer Verzweiflung den Weg über das Mittelmeer.

Und plötzlich ist Krise

Die deutsche Politik ist nicht vorbereitet auf die massiven Fluchtbewegungen. Zwar diskutiert die Europäische Union bereits über die Umverteilung von Migranten auf dem Kontinent - aber es gibt noch keinen Kompromiss. Das deutsche Credo: Nur mit einer europäischen Lösung kann der erwarteten hohen Migration begegnet werden. Im Sommer lässt sich noch nicht absehen, dass vor allem Deutschland bald die Lasten der Flüchtlingskrise tragen wird.

Am 19. August 2015 muss der damalige Innenminister Thomas de Maizière die Prognose der Flüchtlingszahlen für das laufende Jahr auf 800.000 korrigieren. Zuvor war mit etwa der Hälfte gerechnet worden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) setzt wenige Tage später das Dublin-Verfahren für Syrer außer Kraft. Die Regelung legt fest, dass Flüchtlinge dort Asyl beantragen müssen, wo sie zum ersten Mal den Boden der EU betreten. Die Entscheidung des BAMF soll Mittelmeerstaaten wie Griechenland oder Italien entlasten.

"Wir schaffen das!"

"Wir leben in geordneten, sehr geordneten Verhältnissen", sagt die Kanzlerin während ihrer jährlichen Pressekonferenz am 31. August 2015. "Die meisten von uns kennen das Gefühl völliger Erschöpfung, verbunden mit Angst nicht." Angela Merkel ist bereit, Menschen aufzunehmen, die sich über die Balkanroute auf den Weg nach Deutschland gemacht haben. Die Aufnahme der Menschen sei eine "nationale Aufgabe". Sie betont: "Wir schaffen das!"

Selfie mit der Kanzlerin: Ein Foto eines syrischen Flüchtlings mit Angela Merkel sorgt 2015 für DiskussionenBild: Getty Images/S. Gallup

Österreich und Ungarn setzen mittlerweile Sonderzüge ein, um die Menschen in Richtung Deutschland zu bringen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Zahl der Flüchtlinge zwar hoch, aber noch übersichtlich. Das Innenministerium um Ressortchef Thomas de Maizière meldet dennoch Bedenken an, was mit den Menschen nach ihrer Ankunft passieren soll. Das Bundeskanzleramt entscheidet schließlich, trotz Bedenken die Züge nicht zurückzuweisen. Es ist ohnehin unklar, wie sie hätten gestoppt werden können.

Eine historische Entscheidung

Es ist der 4. September 2015, ein Freitagabend, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Entscheidung trifft, die die politische Debatte der nächsten Jahre bestimmen wird. Merkel ist unterwegs auf Wahlkampftour in Nordrhein-Westfalen. Währenddessen meldet sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán im österreichischen Außenministerium. Die Situation in Ungarn sei nicht mehr unter Kontrolle. 1000 Flüchtlinge seien zu Fuß auf dem Weg nach Österreich.

Ziel Deutschland: Flüchtlinge warten am 05. September 2015 am Wiener BahnhofBild: picture-alliance/dpa/J. Dieckmann

Merkel telefoniert mit dem damaligen österreichischen Kanzler Werner Faymann. Der möchte Bilder von Gewalt und Zurückweisung an der Grenze vermeiden. Faymann schlägt Merkel vor, die Menschen nicht aufzuhalten und im Verhältnis zehn zu eins auf die beiden Länder zu verteilen. Merkel stimmt sich mit dem Koalitionspartner SPD ab. Der damalige Vorsitzende Sigmar Gabriel gibt sein Einverständnis für die Aufnahme der Menschen.

Den zweiten Koalitionspartner, den damaligen CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer, erreicht Merkel in der Nacht nicht. Der meldet sich erst am nächsten Morgen und bezeichnet die Entscheidung der Kanzlerin als "Fehler". Es ist der Beginn eines Streits zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU, der mehrere Jahre anhalten wird.

Umarmungen und Brandsätze

Noch in der Nacht wird klar: Die Zahlen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán sind stark untertrieben. An diesem Wochenende kommen rund 20.000 Flüchtlinge am Hauptbahnhof im bayerischen München an - und werden herzlich empfangen. Hunderte Menschen applaudieren den Ankommenden, nehmen sie in den Arm. Die Bilder der neuen deutschen "Willkommenskultur" gehen um die Welt.

Tausende Flüchtlinge kommen im September 2015 am Hauptbahnhof in München anBild: picture-alliance/dpa

Doch mit der Gastfreundschaft der einen nimmt auch Hetze und Rassismus der anderen zu. Im Jahr 2015 werden laut Bundeskriminalamt mehr als 1000 Angriffe auf Asylunterkünfte gezählt, darunter mehr als 90 Brandstiftungen - sechsmal mehr als im Vorjahr. Allein in der Woche nach Merkels Entscheidung werden acht Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im Land gezählt. Mindestens fünf Menschen werden dabei verletzt.

Das O-Wort

Die bayerische CSU fühlt sich im Herbst 2015 weiterhin übergangen. Sie warnt davor, dass Deutschland mit einer solch hohen Zahl an Flüchtlingen überfordert sein wird. Für die kommenden Jahre schlägt die Partei daher eine "Obergrenze" vor. Auf einem Parteitag im November 2015 nehmen die CSU-Delegierten den Vorschlag offiziell an. Anfang 2016 wird er konkreter: Nur noch 200.000 Flüchtlinge pro Jahr sollen nach Deutschland dürfen, erklärt Seehofer.

Streit auf offener Bühne: Beim CSU-Parteitag muss sich Merkel Seehofers Kritik anhörenBild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Auch Bundeskanzlerin Merkel spricht auf dem Parteitag der CSU. Sie lehnt eine "Obergrenze" ab, stattdessen fordert sie eine "europäische Lösung". "Abschottung und Nichtstun sind keine Lösung im 21. Jahrhundert", sagt Merkel in ihrer Rede. Der Parteitag wird zum Symbol des Streits zwischen CDU und CSU. Erst Ende 2017 werden die Parteien  sich auf einen Korridor von 180.000 bis 220 000 Menschen pro Jahr einigen.

Köln - Schauplatz einer aufgebrachten Debatte

Die Diskussion um Flüchtlinge und Obergrenze wird befeuert durch die Geschehnisse in Köln in der Silvesternacht 2015. Am Hauptbahnhof werden Frauen ausgeraubt oder sexuell belästigt. Nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) werden etwa 650 Frauen Opfer von Sexualdelikten.

Silvesternacht 2015 in Köln: Die Polizei war mit dem Ausmaß der Übergriffe überfordertBild: picture-alliance/dpa/M. Böhm

Die meisten Verdächtigen sollen aus Nordafrika stammen. Laut einer Erhebung des BKA hält sich rund die Hälfte der Verdächtigen erst seit kurzer Zeit in Deutschland auf. "Insofern gibt es schon einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten des Phänomens und der starken Zuwanderung gerade in 2015", erklärt BKA-Präsident Holger Münch. Es ist der Anfang einer neuen Debatte über die Abschiebung straffälliger Flüchtlinge in ihre Heimatländer.

Ein Jahr mit Folgen

Bereits im November setzt Deutschland das Dublin-Verfahren auch wieder für Syrien ein. Doch erst Anfang 2016 kommt Deutschland wieder etwas zur Ruhe. Im März schließen mehrere Balkanstaaten ihre Grenzen für Flüchtlinge. Damit ist die Balkanroute weitgehend dicht. Angela Merkel setzt sich weiterhin für eine Lösung in Europa ein. Hilfe bekommt sie vom Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan. Er schließt ein Abkommen mit der EU, um die ungeregelte Einreise über die Türkei in die EU zu verhindern. Die Zahl der Zuwanderer nach Europa sinkt daraufhin drastisch.

Hilfe aus der Türkei: Merkel reist selbst zu Präsident Erdoğan, um das Abkommen mit der EU zu besprechenBild: Getty Images/G. Bergmann/Bundesregierung

Doch die Geschehnisse des Jahres 2015 haben Konsequenzen. Die Alternative für Deutschland (AfD) kritisiert die Flüchtlingspolitik Angela Merkels und wendet sich gegen die Willkommenskultur des Jahres 2015. Im März 2016 erzielt die rechtspopulistische Partei damit ein Rekordergebnis bei mehreren Landtagswahlen. Zwei Jahre später wird sie die stärkste Oppositionspartei im Bundestag sein.

Die Kritik an der Kanzlerin wird auch in den eigenen Reihen lauter. Auch Angela Merkel sagt inzwischen selbstkritisch: "Ein Jahr wie 2015 darf sich nicht wiederholen." Dennoch könne das Land stolz sein, "diese dramatische humanitäre Herausforderung so gut gemeistert" zu haben.