Deutschland und Polen: ein "neues Kapitel"
12. Dezember 2021Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat bei seinem Antrittsbesuch in Polen den Willen Deutschlands zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit bekräftigt. Die Bundesregierung hoffe deswegen auf Fortschritte im Streit über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sagte Scholz in Warschau bei einem Treffen mit dem polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki.
"Nachbarn und Freunde"
"Europa ist eine Werte- und Rechtsgemeinschaft, uns verbinden die Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie", so Scholz. "Und deshalb wäre es auch sehr gut und hilfreich, wenn die Diskussionen und Gespräche zwischen der Europäischen Union, der Kommission und Polen bald zu einer sehr guten pragmatischen Lösung führen könnten." Polens nationalkonservative PiS-Regierung baut das Justizwesen seit Jahren um und liegt darüber im Streit mit der EU-Kommission. Kritiker werfen Warschau vor, Richter unter Druck zu setzen. Die EU-Kommission hat wegen der Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau eröffnet und Klagen beim EuGH eingereicht.
Scholz erinnerte an die Verhängung des Kriegsrechts in Polen vor 40 Jahren und die Verfolgung der Gewerkschaft Solidarnosc. "Ich bin sehr, sehr froh, dass wir heute, 40 Jahre später, hier zusammenstehen können als Vertreter demokratischer Staaten, die miteinander vereint sind in der Europäischen Union", sagte er. Deutsche und Polen seien Nachbarn und Freunde, Partner in der Europäischen Union und Alliierte in der NATO. Das sei ein großes Glück. Scholz: "Denn die gemeinsame Geschichte Deutschlands hat auch sehr düstere Kapitel beinhaltet, in denen Deutsche großes Leid über Polen gebracht haben. Das wissen wir."
"Eine Utopie" für Polen
Morawiecki sprach angesichts des Regierungswechsels in Berlin von einem "neuen Kapitel" in den bilateralen Beziehungen. Der polnische Ministerpräsident brachte in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz eine ganze Reihe von Streitpunkten zur Sprache. Zur deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 sagte er: "Das Beste wäre, eine Eröffnung von Nord Stream 2 gar nicht zuzulassen." Eine Inbetriebnahme würde insbesondere die Ukraine, aber auch den Rest Europas anfällig für "Gaserpressung" durch Russland machen.
Deutliche Kritik übte Morawiecki auch an dem im Koalitionsvertrag der neuen deutschen Regierung vereinbarten Ziel, die Europäische Union zu einem "föderalen Bundesstaat" weiterzuentwickeln: In polnischen Ohren klinge diese Vision nach "bürokratischem Zentralismus - das ist eine Utopie und gefährlich".
"Geänderte Taktik" in Belarus
Im Streit über die Flüchtlinge im Grenzgebiet zu Belarus sicherte Scholz der polnischen Regierung Unterstützung zu. Das Vorgehen des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko sei "menschenverachtend und wir haben eine gemeinsame Aufgabe, das zurückzuweisen", so Scholz in Warschau weiter. Deutschland wolle solidarisch mit Polen gegen diesen unangemessenen Weg einer "hybriden Kriegsführung" vorgehen. Die EU wirft Lukaschenko vor, Flüchtlinge gezielt an die Grenze geschleust zu haben.
Morawiecki teilte seinerseits mit, er habe Scholz "die geänderte Taktik vorgestellt, die das Lukaschenko-Regime jetzt in dieser künstlich ausgelösten Migrationskrise anwendet, die Verwendung von Menschen als lebende Schutzschilde, als Waffe". Er sprach von mehr als 100 Versuchen der Grenzüberquerung.
Deutsche Reparationszahlungen?
Der deutsche Kanzler ging schließlich auch auf die Forderungen aus Polen nach deutschen Reparationsleistungen ein und verwies hier auf die hohen deutschen EU-Finanzzahlungen. Von diesen "sehr, sehr hohen Beiträgen" fließe ein Großteil etwa in EU-Länder im Süden und Osten der Union, was gut sei. Deutschland stelle sich aber auch der moralischen Verantwortung für das, was Deutsche in anderen Staaten im Zweiten Weltkrieg angerichtet hätten. Morawiecki wies auf das Leiden der Polen im Zweiten Weltkrieg hin, forderte aber nicht direkt deutsche Reparationszahlungen.
Von polnischer Seite hatte es immer wieder Forderungen nach Entschädigungen für im Zweiten Weltkrieg erlittene Schäden gegeben. Die Bundesregierung hatte dies stets abgelehnt. Auch Scholz verwies auf früher geschlossene Verträge, die das Thema erledigt hätten. Aus Griechenland waren in den vergangenen Jahren ebenfalls Gespräche über Reparationen gefordert worden.
Der Kanzler hatte am Freitag zwei Tage nach seiner Vereidigung zuerst Paris und dann Brüssel besucht. Frankreich ist traditionell das erste Reiseziel neuer deutscher Regierungschefs. Polen steht als zweitgrößtes Nachbarland Deutschlands bei der Planung von Antrittsbesuchen aber auch immer ganz weit oben auf der Liste.
sti/wa/ack (afp, dpa)