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Politik

Deutschlands Corona-Präsidentschaft

1. Juli 2020

Sechs Monate hat Kanzlerin Angela Merkel Zeit, um in der EU Kompromisse auszuhandeln. Priorität hat der Kampf gegen die Folgen der Corona-Pandemie. Klar ist schon jetzt: Es wird eine Ratspräsidentschaft wie keine zuvor.

Deutsche EU Ratspräsidentschaft
Das Logo der deutschen Ratspräsidentschaft: ein unendliches und einigendes "Möbius-Band"Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Der Wechsel der EU-Präsidentschaft an diesem 1. Juli wäre normalerweise keine große Sache. Seit Gründung der Gemeinschaft im Jahr 1957 übernimmt alle sechs Monate ein anderer Mitgliedsstaat nach einem festgelegtem Schema die Leitung der Sitzungen, die Organisation der Tagesordnung und das Vorantreiben der Verhandlungen in allen möglichen Politikfeldern. Dabei tritt das Vorsitz-Land als "ehrlicher Makler" auf, besagt ein ungeschriebenes Gesetz in Brüssel. Kompromisse zu finden und alle Interessen unter einen Hut zu bringen ist die Devise jeder Präsidentschaft. "Das gelingt mal mehr, mal weniger", sagt dazu ein erfahrener EU-Diplomat. Keine große Aufregung also?

"Die größte Herausforderung"

Doch! Diesmal ist alles anders. Die Corona-Pandemie hat die Welt völlig auf den Kopf gestellt. "Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass wir vor der größten wirtschaftlichen Herausforderung in der Geschichte der EU stehen. Dementsprechend müssen auch die Maßnahmen sein, die wir ergreifen", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Pressekonferenz vor Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Der Zufall will es, dass neben der Bekämpfung der Corona-Folgen auch der sieben Jahre währende Haushalt der EU neu aufgestellt werden muss. Das wirtschaftlich leistungsfähigste und größte Mitgliedsland führt den Vorsitz mit einer erfahrenen Krisenmanagerin an der Spitze.

Im Brüsseler EU-Ratsgebäude steht Corona-bedingt deutlich weniger Platz für physische Treffen zur VerfügungBild: DW/B. Riegert

Priorität hat Corona

Nach Meinung der Ratspräsidentin geht es um nicht weniger als das Überleben der EU. Fundamentale Hilfen für die Pandemie-gebeutelten Länder sind nötig. Eine riesige finanzielle Umverteilung, die alles in allem 1,85 Billionen Euro betragen könnte. Ein nie dagewesener Akt der Solidarität, der den Bestand der EU sichern soll. "Unser gemeinsames Ziel muss es jetzt sein, die Krise gemeinschaftlich, nachhaltig und mit Blick auf die Zukunft zu bewältigen. Genau das wird das Leitmotiv unserer EU-Ratspräsidentschaft sein", kündigte Angela Merkel an. Der gemeinsame deutsch-französische Vorschlag für einen "Aufbaufonds" als Konjunkturspritze und den Sieben-Jahreshaushalt will Merkel den übrigen 26 Staats- und Regierungschefs schon in den nächsten Wochen bei ersten persönlichen Gipfeltreffen in Brüssel schmackhaft machen. Die EU soll zum ersten Mal dafür gemeinsame Schulden aufnehmen, die die Mitgliedsstaaten im Laufe der kommenden 30 Jahre wieder abstottern sollen.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas machte im Gespräch mit der DW deutlich, dass Deutschland in seiner Präsidentschaft auch auf den eigenen Nutzen schauen wird. "Eine große Exportnation wie Deutschland profitiert davon, dass es uns in Europa gut geht. Deshalb wollen wir dafür sorgen, dass den Ländern, die besonders hart von der Corona-Pandemie getroffen wurden, wie Italien oder Spanien, geholfen wird, schneller aus der Krise zu kommen. Das ist nicht nur gut für diese Länder, sondern auch für Europa und für Deutschland", so Maas.

Hohe Erwartungen

Die voraussichtlichen Empfängerstaaten finden den Vorschlag für den "Aufbaufonds" gut. Die Geberstaaten, allen voran die "sparsamen Vier" (Österreich, Schweden, Dänemark, Niederlande), muss Angela Merkel noch überzeugen. Das werde hart, räumt die Kanzlerin ein, die nach 2007 bereits ihre zweite Ratspräsidentschaft übernimmt:"Die Brücken, die wir noch zu bauen haben, sind groß.Das ist ohne Frage richtig."

Die Erwartungen an diese deutsche Ratspräsidentschaft in außergewöhnlichen Zeiten sind hoch, weiß Janis Emmanouilidis von der Denkfabrik "European Policy Centre". "Wenn man das nicht schaffen würde, würde das die EU in eine noch schwerwiegendere politische Krise führen. Von daher braucht man ein Ergebnis und von daher ist auch die deutsche Ratspräsidentschaft wichtig."

Janis Emmanouilidis: Die deutsche Präsidentschaft ist wichtig, um die Krise zu überstehenBild: DW/B. Riegert

Angela und Ursula

"Mutti wird es schon machen", flachsen einige EU-Diplomaten in Brüssel und weisen dann in ernsterem Ton auf den großen Erfahrungsschatz der dienstältesten Regierungschefin in Europa hin. "Mutti" nannte einst die eigene christdemokratische Fraktion im Bundestag Angela Merkel. Und auch die deutsche Frau an der Spitze der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, spielt bei der Kompromiss-Suche eine wichtige Rolle, meint EU-Experte Janis Emmanouilidis. "Die Tatsache, dass Ursula von der Leyen und Angela Merkel sich nicht nur lange kennen, sondern auch lange miteinander gearbeitet haben, führt sicher auch dazu, dass es enge Wege gibt zwischen den beiden. Ich gehe davon aus, dass es eine enge Abstimmung mit Berlin, also Angela Merkel, gab, und das ist auch nötig." Von der Leyen war viele Jahre Ministerin unter Kanzlerin Merkel, bevor sie im vergangenen Jahr nach Brüssel ging.

Merkel mit Ursula von der Leyen: Zwei deutsche Frauen an der Spitze. Wird es helfen? Bild: picture-alliance/NurPhoto/E. Contini

China-Gipfel, Umwelt, Migration und Brexit 2.0

Hinter der Bewältigung der durch Corona ausgelösten Wirtschaftskrise treten die weiteren Vorhaben der Ratspräsidentschaft notgedrungen in den Schatten. Und doch muss auch mit Großbritannien bis Oktober eine Vereinbarung über den künftigen Handel und Personenverkehr abgeschlossen werden. Doch nach dem Brexit zeigen sich die Briten wenig verhandlungsbereit. Ein harter Ausstieg aus dem EU-Binnenmarkt zum Jahresende droht.

Ein Gipfeltreffen mit der chinesischen Führung lag der deutschen Kanzlerin besonders am Herzen. Es wird nun aber wegen der Corona-Pandemie und mangelnder Fortschritte bei einem angestrebten Investitionsschutz-Abkommen auf unbestimmte Zeit verschoben oder sogar ganz abgesagt. Ein Gipfeltreffen mit der Afrikanischen Union soll hingegen stattfinden. Die seit Jahren anhaltende Suche nach neuen Asyl- und Migrationsregeln für die EU wird auch unter deutscher Ratspräsidentschaft nicht abgeschlossen. Bundesinnenminister Horst Seehofer will eine politische Einigung erreichen und die lästigen Details, wie etwa die Verteilung von Flüchtlingen, an die nächste, die portugiesische Ratspräsidentschaft weiterreichen. Einige Fortschritte könnten auf dem Weg zur Vereinbarung von neuen Klimaschutzzielen gemacht werden. Sicher ist jedoch auch das nicht.

Die deutsche Vertretung bei der EU in Brüssel wurde für die Zeit der EU-Präsidentschaft um 150 Beamte aus allen Fachressorts auf insgesamt 400 Personen aufgestockt. Botschafter Michael Clauss managt die alltägliche Geschäfte des Apparates, der Hunderte von Konferenzen und Sitzungen vorbereitet. Allerdings stehen wegen der Corona-Einschränkungen im Ratsgebäude nur 25 Prozent der Raumkapazitäten für Sitzungen zur Verfügung. Videokonferenzen sind weniger effizient, physische Treffen soll es erst von September an geben. "Die Maschine läuft nur auf halber Kraft, trotzdem soll die deutsche Präsidentschaft eine Vielzahl von Beschlüssen herbeiführen." Das bereite ihm schon jetzt schlaflose Nächte, räumt Botschafter Clauss ein.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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