Deutschlands langer Weg zur Aufarbeitung
30. August 2014Es ist eine Koinzidenz, die im politischen Berlin für heftige Debatten sorgt: Just zum 75. Jahrestag des Überfalls auf Polen am 1. September stimmt der Bundestag über Waffenlieferungen an die Kurden im Irak ab, mit denen sie im Kampf gegen den radikal-islamischen IS unterstützt werden sollen. Es wäre das erste Mal nach 1945, dass die Bundesrepublik eine Kriegspartei in einem laufenden Konflikt direkt mit Waffen versorgt.
Dass diese Zäsur in der deutschen Politik große Bauchschmerzen bereitet, liegt in den Lehren aus dem "Dritten Reich" begründet: Nie wieder sollte von deutschem Boden Krieg ausgehen. Die Gründerväter der Bundesrepublik hatten ins Grundgesetz geschrieben: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig."
Von der "Scheckbuch-Diplomatie" zu Blauhelm-Einsätzen
Folglich hielt sich die Bundesrepublik jahrzehntelang bei Militäraktionen westlicher Staaten strikt zurück und zückte selbst bei UN-Einsätzen nur das Scheckbuch, entsandte aber keine Bundeswehrsoldaten. Das änderte sich erst nach der Wiedervereinigung, als der internationale Druck auf Deutschland größer wurde, sein Engagement zu verstärken. Das Bundesverfassungsgericht machte 1994 den Weg dafür frei, indem es entschied, dass ein Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen der Vereinten Nationen verfassungsgemäß ist.
Heute sind von Georgien über Afghanistan bis zum Horn von Afrika mehr als 4000 Bundeswehrsoldaten an UN-Missionen beteiligt. Militärischen Eingriffen ohne Mandat des Sicherheitsrats hat Deutschland stets eine Absage erteilt. Ausnahme war hierbei die Teilnahme am Kosovokrieg 1999, die im Rahmen einer NATO-Operation erfolgte.
Auch innerhalb der Bundeswehr hat man Lehren aus der Hitler-Zeit gezogen: Damals drohte allen deutschen Soldaten, die sich weigerten, befohlene Gräueltaten zu begehen, die Exekution. Heute haben Bundeswehrsoldaten das verbriefte Recht, sich jedem Befehl zu widersetzen, "der die Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist". Und das Soldatengesetz geht noch weiter: "Ein Befehl darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde."
Langer Weg bis zur Aufarbeitung
Bis nicht nur die Politik, sondern auch die breite Bevölkerung in Deutschland bereit war, die Gräuel des Hitler-Regimes anzuerkennen und sich mit diesem dunklen Kapitel der eigenen Geschichte ehrlich auseinanderzusetzen, brauchte man jedoch Zeit: Viele Nazis tauchten zunächst nach 1945 in Richterroben, auf Lehrstühlen und in anderen öffentlichen Ämtern wieder auf.
Einen wichtigen Kampf gewannen die deutschen Medien Anfang der 1950er Jahre: Als der damalige Innenminister sie durch Pressekammern kontrollieren lassen wollte, in denen auch Staatsvertreter sitzen sollten, befürchteten sie erneut Zustände wie im NS-Regime. “Das hat Verleger und Journalisten doch sehr stark an die Reichspressekammer erinnert“, sagt Roman Portack vom Deutschen Presserat. Mit der Gründung dieser selbstregulierenden Institution im Jahre 1956 erreichten Verleger- und Journalistenverbände, staatliche Kontrolle über die Medien zu verhindern.
Unterschiede zwischen BRD und DDR
Eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Hitler-Zeit kam in Westdeutschland dennoch erst Ende der 1960er Jahre in Gang, als die Studenten auf die Barrikaden gingen. Einer ihrer zentralen Kritikpunkte war die fehlende Vergangenheitsbewältigung.
In der DDR wurde dieses Kapitel sogar bis zum Fall der Berliner Mauer mit sozialistisch-antifaschistischen Parolen übertüncht - tatsächliche Lehren aus dem Dritten Reich und seinen Folgen zog man nicht. Die Führungsriege in Ostberlin sah sich als "Opfer des Faschismus". Darüberhinaus führte der ostdeutsche Ein-Parteien-Staat mit seinem Abhörapparat und der Unterdrückung jeder oppositioneller Meinung viele Elemente des Hitler-Regimes fort.
Aufklärung in Schulen
Dass das "Dritte Reich" zum Tod von 50 bis 60 Millionen Menschen, darunter alleine sechs Millionen Juden geführt hat, dass es die Welt in den bisher grausamsten Krieg gestürzt und in Deutschland ein Terror-Regime errichtet hat - diese Tatsachen gehören heute zum obligatorischen Lernstoff in den Schulen. "Das hat in der 9. und 10. Klasse einen festen Platz", sagt Ulrich Borgertmann vom deutschen Geschichtslehrerverband. "Ich glaube nicht, dass es heute Schüler gibt, die davon überhaupt nicht erreicht werden." Die wesentliche Botschaft, die jedes deutsche Kind aus seiner Schulzeit mitnehmen soll, ist aus seiner Sicht: "Das darf nicht wieder vorkommen - und dazu muss man in der Gesellschaft hier und heute aufpassen."
Wie aber ist zu erklären, dass es in Deutschland dennoch Neonazi-Gruppen gibt, die Hitlers Ideologie propagieren? "Wir wissen natürlich, dass Geschichtsunterricht keine hundertprozentigen Erfolgsraten hat", gibt Borgertmann zu. Ganz ausschließen, dass derartiges Gedankengut bei Jugendlichen verfängt, könne man nicht. In Ostdeutschland, wo zu DDR-Zeiten keine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich stattfand, ist dieses Problem noch virulenter als in den westlichen Bundesländern.
Holocaust-Lüge strafbar
Allerdings schiebt der Gesetzgeber der Verbreitung von Neonazi-Propaganda einen festen Riegel vor: Wer das Hitler-Regime in der Öffentlichkeit billigt oder rechtfertigt, muss mit bis zu drei Jahren Gefängnis rechnen. Und wer öffentlich die Judenvernichtung leugnet oder relativiert, dem drohen sogar fünf Jahre Haft.
Mitunter werden aber auch immer wieder Stimmen laut, die die heutige deutsche Erinnerungskultur kritisieren: Ende der 1990er Jahre wehrte sich der Schriftsteller Martin Walser in einer Rede dagegen, Auschwitz als "Moralkeule" zu missbrauchen. Andere beklagen, dass jede Kritik an Israels Politik im Nahen Osten sofort unter Antisemitismus-Verdacht gestellt werde.
Auch der Umgang mit nationalen Symbolen hat in den vergangenen Jahrzehnten für Diskussionen gesorgt - von der Wiedervereinigung bis hin zu Sportereignissen wie der Fußball-WM in Deutschland 2006. Die Weltmeisterschaftsfeiern in diesem Jahr haben aber gezeigt, dass sich die Kontroverse entspannt: Heutzutage stößt sich kaum noch jemand an schwarz-rot-gold gefärbten Wangen oder öffentlichem Singen der Nationalhymne.