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Deutschlands militärische Zeitenwende

28. April 2022

Waffenlieferungen für die Ukraine, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr: Die von Kanzler Olaf Scholz verkündete "Zeitenwende" nimmt Gestalt an. Allerdings viel langsamer, als manche erwartet hatten. Das hat Gründe.

Deutschland | Bundeswehr | Panzerhaubitze 2000
Bild: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa/picture alliance

Als der Bundestag beschließt, dass Deutschland die Ukraine im Krieg mit Russland auch mit schweren Waffen unterstützen wird, ist der Bundeskanzler in Japan. Deutschland hat in diesem Jahr die G7-Präsidentschaft der sieben wirtschaftsstärksten Demokratien der Welt inne. Ein Besuch bei den Mitgliedern ist obligatorisch, die Reise war lange terminiert.

Im Bundestag gab es trotzdem Kritik. Eine "staatspolitische Rede" wäre "gefordert gewesen", sagte für die größte Oppositionsfraktion CDU/CSU der Abgeordnete Johann Wadephul. Er hatte Olaf Scholz vor ein paar Tagen noch vorgeworfen, er sei "mitverantwortlich für die Wehrlosigkeit der Ukraine". Der Kanzler sei über Wochen der Diskussion über Waffenlieferungen ausgewichen, ergänzte Fraktionschef Friedrich Merz: "Das ist Zögern, das ist Zaudern, das ist Ängstlichkeit."

Pazifismus hat in der SPD Tradition

Trifft Friedrich Merz mit seiner Kritik den Kern? Tatsächlich ist der politische Prozess wohl komplexer, den Olaf Scholz vor zwei Monaten mit dem Begriff "Zeitenwende" angestoßen hat und zu dem neben Waffenlieferungen für die Ukraine die Aufrüstung der Bundeswehr mit einem 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögen gehört. Um ihn verstehen zu können, muss man einen Blick auf die SPD werfen, die Partei des Kanzlers.

SPD-Fraktionschef Rolf MützenichBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Unter den Sozialdemokraten gibt es viele überzeugte Friedenspolitiker. Sie sitzen auch in der Bundestagsfraktion mit ihrem Chef Rolf Mützenich. Der 62-Jährige ist ein überzeugter Pazifist. Wie viele Sozialdemokraten war er über Jahrzehnte der Meinung, Sicherheit in Europa könne es nur mit, niemals gegen Russland geben.

Als Russland längst seine Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen hatte, machte Mützenich einen "ungezügelten, unkontrollierten Rüstungswettlauf" für die Spannungen verantwortlich und sagte, er könne "gedanklich" nachvollziehen, dass sich Russland von der NATO bedroht fühle.

Die SPD und Russland

Mützenich vertrat immer die Ansicht, dass Deutschland zu Russland ein genauso gutes Verhältnis haben müsse wie zu den USA. Russland über eine enge wirtschaftliche Verflechtung politisch einzubinden, lief unter dem Schlagwort "Wandel durch Handel" und mündete unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder in eine starke Energieabhängigkeit von Russland.

Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine muss die SPD gleich auf zwei Ebenen vollkommen umdenken: im Verhältnis zu Russland und in der Bewertung militärischer Stärke. Das fällt nicht allen leicht, das weiß auch Olaf Scholz, der bei allen politischen Entscheidungen auf die Rückendeckung seiner Partei angewiesen ist.

Die "Zeitenwende" war ein Coup

Scholz ist ein Pragmatiker, er denkt aber auch sehr strategisch. Als Russland die Ukraine überfiel, musste der Kanzler handeln. Er wusste, dass seine Ankündigung, die Bundeswehr aufzurüsten und vom deutschen Dogma abzurücken, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu liefern, jahrzehntelange sozialdemokratische Überzeugungen auf den Kopf stellen würde. Unkalkulierbare parteiinterne Debatten konnte Scholz nicht riskieren. Daher musste er seine SPD überrumpeln und vor vollendete Tatsachen stellen.

Am 27. Februar kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag eine militärische Zeitenwende anBild: ODD ANDERSEN/AFP/Getty Images

SPD-Fraktionschef Mützenich war in die Einzelheiten nicht eingeweiht - wie viele andere in der Regierungskoalition. Auch bei den Grünen stehen viele in der Tradition der Friedensbewegung. Als Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag eine Regierungserklärung abgab und die "Zeitenwende" verkündete, gab es viele überraschte und ratlose Gesichter.

Zähe Entscheidungsfindung

Doch während sich selbst die Pazifisten bei den Grünen schnell auf die neue Situation einstellten, tun sich in der SPD bis heute viele schwer. Allen voran Rolf Mützenich, der immer wieder versucht, anstehende Entscheidungen in eine andere Richtung zu lenken. "Ich finde, die Diskussion der letzten Tage hat eine massive, militaristische Schlagseite", sagte er noch kürzlich: "Einfache Antworten, auch bei der Lieferung von schwerem Kriegsgerät an die Ukraine, gibt es nicht. Wer das behauptet, handelt verantwortungslos."

Die Bundeswehr hat den Flugabwehr-Panzer Gepard 2012 ausgemustert, jetzt soll er in die Ukraine geliefert werdenBild: Maurizio Gambarini/dpa/picture alliance

Einfach macht es sich Olaf Scholz sicherlich nicht. Der Kanzler wirkte in den letzten Wochen zunehmend gereizter: getrieben durch den wachsenden internationalen Druck, aber auch durch die Kritik aus den Reihen der Regierungskoalition. Während die SPD mehrheitlich bremste, ging es den Grünen und der FDP nicht schnell genug mit den deutschen Entscheidungen. Scholz stand zwischen den politischen Fronten und die Ampel-Regierung - angetreten mit dem Anspruch, möglichst geschlossen handeln zu wollen - wirkte plötzlich zerrissen.

"Weil ich nicht tue, was ihr wollt, deshalb führe ich."

Von der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses, musste sich Scholz anhören, er sei möglicherweise "zur falschen Zeit am falschen Ort". Was nicht weniger bedeutet, als dass Scholz seiner Aufgabe nicht gewachsen sei.

Strack-Zimmermann war mit den beiden Vorsitzenden der Ausschüsse für Europaangelegenheiten und Außenbeziehungen in der Ukraine gewesen. Sie hatte unter dem Eindruck des Erlebten sofortige Waffenlieferungen gefordert. Scholz konterte mit dem abwertenden Satz: "Manchen von diesen Jungs und Mädels muss ich mal sagen: Weil ich nicht tue, was ihr wollt, deshalb führe ich."

"Hören Sie auf, auf der Bremse zu stehen!"

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Mit dem Bundestagsbeschluss hat sich der Kanzler nun etwas Luft verschafft. Jetzt gilt: "Im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen liefert Deutschland auch Waffen zur Selbstverteidigung in die Ukraine und billigt die Lieferung aus Drittstaaten." Nötig sei eine "Beschleunigung der Lieferung wirksamer, auch schwerer, Waffen und komplexer Systeme durch Deutschland". Allerdings sind viele Fragen nach wie vor ungeklärt.

Was ist Verteidigung, was Angriff?

Sind die genehmigten Flugabwehr-Panzer nur der Anfang für die Lieferung weiterer schwerer Waffen? In der SPD wird derzeit noch beschwichtigend argumentiert, beim Gepard gehe es darum, den Luftraum über der Ukraine gegen russische Angriffe zu schützen, der Panzer sei also eine Verteidigungswaffe. Militärexperten sehen das anders und verweisen auf die Maschinenkanonen, die auch aktiv gegen Bodenziele eingesetzt werden können.

Wie wird Deutschland reagieren, wenn die Ukraine Artilleriegeschütze und Kampfpanzer verlangt? Wer bildet die ukrainischen Soldaten wo aus, damit sie die westlichen Waffensysteme bedienen können und wo soll die Munition herkommen? Die Schweiz hat unter Verweis auf die eigene Neutralität einen Export von in dem Alpenland hergestellter Munition bereits verboten.

Wo endet die Neutralität?

Ohnehin treibt die Frage, wie weit ein Land gehen kann, ohne vom russischen Präsidenten Wladimir Putin als Kriegspartei angesehen zu werden, auch das Kanzleramt um. Schließlich hat der Kreml-Chef den NATO-Staaten gedroht, man werde bei einer Einmischung "blitzschnell" reagieren. Olaf Scholz hat im "Spiegel" erst kürzlich von einem drohenden Dritten Weltkrieg und einem Atomkrieg gewarnt, er bezeichnete es in dem Interview als oberste Priorität, ein Übergreifen des Krieges auf die NATO zu vermeiden.

Ukraine: Bringen schwere Waffen die Wende?

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Doch wer kann schon genau wissen, wie Wladimir Putin reagiert und wie weit man gehen kann, ohne dass es zu einer Eskalation führt? Die Bundeswehr jedenfalls wäre derzeit wohl nur bedingt gerüstet. SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht zählte kürzlich auf, dass es "auf dem Papier" zwar 350 Schützenpanzer vom Typ Puma gebe, einsatzbereit seien aber nur 150. Und beim Kampfhubschrauber Tiger könnten von 51 Maschinen gerade einmal neun abheben.

Angesichts solch massiver Probleme werden inzwischen Fragen laut, ob 100 Milliarden Euro Sondervermögen überhaupt ausreichen, um die Defizite bei der Bundeswehr zu beseitigen. Doch wer sich mit der schwierigen und langwierigen Beschaffung von Militärmaterial auskennt, weiß, dass solche Fragen wohl erst in ein paar Jahren akut werden.

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