Fahnenträgerin Anna-Maria Wagner: "Wir sind keine Maschinen"
Jonathan Crane
26. Juli 2024
Judoka Anna-Maria Wagner litt nach den Olympischen Spielen in Tokio an Depressionen. Bei Olympia 2024 in Paris wird sie bei der Eröffnungsfeier die deutsche Fahne tragen. Auch sportlich hat sie ein großes Ziel.
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Für Judoka Anna-Maria Wagner war die Teilnahme an den Olympischen Spielen ein Kindheitstraum. Doch selbst Wagner hätte sich als kleines Mädchen wohl nie vorstellen können, einmal Fahnenträgerin für ihr Land zu sein. Bei der feierlichen Eröffnung der Spiele in Paris auf der Seine darf sie gemeinsam mit Basketball-WeltmeisterDennis Schröder die deutsche Fahne tragen.
"Als ich es erfuhr, war ich erst einmal sprachlos", sagte Wagner am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. "Das wird mir erst bewusst, wenn ich die Fahne in den Händen halte."
Wagner bezeichnet ihre Aufgabe als "große Ehre" und meint, ihre Auswahl sei die gerechte Belohnung für eine Karriere, in der sie zwei Weltmeisterschaften, darunter die diesjährige in Abu Dhabi, sowie zwei Bronzemedaillen bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 gewonnen hat.
"Ich habe viel geweint, ohne Grund"
Doch neben all den Höhen gab es auch einige verheerende Tiefpunkte. Nach ihrer Rückkehr aus Tokio entwickelte die heute 28-jährige Sportsoldatin und Studentin Depressionen. Nachdem sie sich ihren Traum erfüllt hatte, fühlte sie sich niedergeschlagen und verließ irgendwann tagelang nicht einmal mehr ihr Bett.
"Am Anfang hatte ich keine Lust auf Judo oder Sport, ich wollte einfach nur zu Hause bleiben", sagt Wagner in einem Interview mit der DW, das vor den Olympischen Spielen geführt wurde. "Ich bin nicht viel ausgegangen, aber ich habe auch viel geweint, ohne Grund. Ich war einfach nicht gut drauf."
Wagner, die während des gesamten Interviews lächelt und lacht, räumt ein, dass sie damals das "komplette Gegenteil" zu dem war, was sie normalerweise ist. Sie musste sich zwingen, zum Training und zu ihrer früheren Routine zurückzukehren.
"Es war eine sehr harte Zeit", erinnert sich Wagner. "Es hat länger gedauert, als ich dachte. Ich fühlte mich immer besser und dann wieder schlechter. Es war wie eine Achterbahnfahrt. Aber es wurde immer ein bisschen besser, und ich würde sagen, dass ich zu Beginn dieses Jahres körperlich und geistig wieder voll da war. Und ich hatte bisher ein starkes Jahr."
Umgang mit dem olympischen Erfolg
Wagner sagt, sie habe sich mit der Unterstützung ihrer Freunde und der Hilfe ihres Sportpsychologen erholt, der ihr erklärt habe, dass sie in eine neue Phase ihres Lebens eintrete und wieder herausfinden müsse, was sie von diesem Leben wolle. "Wir sind keine Maschinen", sagt Wagner. "Irgendwann hat man alles erreicht, was man sich vorgenommen hat. Und was dann?"
Der emotionale Absturz hat einen eigenen Namen: postolympische Depression. Wagner ist bei weitem nicht die Einzige, die darunter leidet. Michael Phelps, mit 23 Goldmedaillen der höchstdekorierte Olympionike aller Zeiten, hat bereits früher enthüllt, dass er auf dem Höhepunkt seiner unglaublichen Karriere über Selbstmord nachgedacht hat. "Nach jeden Olympischen Spielen bin ich, glaube ich, in eine schwere Depression gefallen", sagte Phelps 2018.
Für Wagner ist es ein Zeichen von "Stärke", offen über psychische Gesundheit zu sprechen. Dabei half es ihr, zu akzeptieren, was sie durchmachte.
"Ich habe mich irgendwann entschieden, damit an die Öffentlichkeit zu gehen und darüber zu sprechen, denn jeder kennt mich nur für meine Medaillen, mein Lächeln und meine Siege", sagt die Judoka. "Aber es gibt auch eine Kehrseite der Medaille, das ist auch ein Teil von mir. Und es ist in Ordnung, dass es so ist."
Die Reaktionen waren sehr positiv: "Ich habe einige sehr nette Nachrichten bekommen. Viele Sportlerinnen und Sportler haben mir geschrieben und gesagt, dass sie sich genauso gefühlt haben und mir dafür gedankt, dass ich darüber gesprochen habe, weil sie es nicht konnten", erinnert sich Wagner. "Vielleicht kann ich ja dem einen oder anderen von ihnen helfen. Jemand, der sich in ein paar Jahren für die Spiele qualifiziert, wird sich dann daran erinnern, dass es normal ist, dass so etwas passiert."
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Mission Gold in Paris
Es ist schon zermürbend genug, zu Olympischen Spielen zu kommen, geschweige denn, um den größten Preis zu kämpfen. Im Judo darf ein Land jeweils nur eine Athletin beziehungsweise einen Athleten pro Gewichtsklasse entsenden. Das bedeutete, dass Wagner sich nicht nur einen Qualifikationsplatz sichern, sondern auch noch vor der zweifachen Europameisterin Alina Böhm, die sie als Freundin betrachtet, ausgewählt werden musste.
"Es war wirklich eine harte Zeit für mich", erzählt Wagner. "Es war wichtig, dass ich in dieser Zeit einfach in mir geblieben bin. Dass ich nicht nach links oder rechts geschaut habe, sondern mich nur auf meine Leistung konzentriert und mein Bestes gegeben habe."
Die Olympischen Spiele wolle sie wie jeden anderen Wettbewerb angehen, um auf dem Boden zu bleiben. "Es sind dieselben Leute, dieselben Richter und dieselben Trainer", sagt Wagner.
Sie wolle die Eröffnungsfeier genießen, bevor sie einen "Schnitt mache" und sich auf ihren Wettkampf konzentriere. Das Ziel sei klar. "Eine Goldmedaille, natürlich", sagt Wagner, wieder mit einem breiten Lächeln. Und sie meint es ernst.
Wer bei den Olympischen Spielen der deutschen Mannschaft bei der Eröffnungsfeier mit der Fahne vorangeht, hat meist zuvor bereits Erfolge bei Olympia gefeiert. Eine 2,13 Meter große Ausnahme gibt es.
Bild: Sven Simon/dpa/picture alliance
Helsinki 1952 - Friedel Schirmer
Als deutsche Sportlerinnen und Sportler nach dem Zweiten Weltkrieg wieder bei Olympischen Spielen willkommen sind, führt Zehnkämpfer Friedel Schirmer sie an. Er ist ehemaliges NSDAP-Mitglied und war russischer Kriegsgefangener. Durch eine Verletzung beeinträchtigt, wird er in Helsinki Achter. Nach seiner Karriere wird Schirmer Zehnkampf-Bundestrainer und später Bundestagsabgeordneter der SPD.
Bild: AP/dpa/picture alliance
Rom 1960 - Fritz Thiedemann
Der Springreiter übernimmt den Job in Rom schon zum zweiten Mal. 1956, als die Reiter wegen der strengen Quarantäne-Bestimmungen nicht zum eigentlichen Olympiaort Melbourne reisen, sondern in Stockholm starten, reitet er bei der Eröffnungsfeier der Reiterspiele mit der deutschen Fahne als Erster ins Stadion. Bei beiden Spielen gewinnt Thiedemann mit der deutschen Equipe Gold.
Bild: picture-alliance / dpa
Tokio 1964 - Ingrid Engel-Krämer
Von 1956 bis 1968 ziehen Sportlerinnen und Sportler aus DDR und BRD gemeinsam ins Stadion ein. In Tokio führt DDR-Wasserspringerin Ingrid Engel-Krämer die gesamtdeutsche Olympiamannschaft an. Engel-Krämer ist die erste deutsche Frau, die die Fahne ins Olympiastadion tragen darf. Sie gewinnt in Tokio Gold vom 3-Meter-Brett und Silber vom 10-Meter-Turm.
Bild: dpa/picture alliance
München 1972 - Detlef Lewe
Deutschlands Fahnenträger der "Heim-Spiele" ist 1972 bereits zum vierten Mal bei Olympia dabei. Zwischenzeitlich hat der Kanute seine Karriere schon beendet, startet aber vor München ein Comeback. Es lohnt sich: Wie 1968 gewinnt er im Einer-Canadier Bronze. Und er erlebt aus nächster Nähe, wie die deutsche Hürdenläuferin Heidi Schüller (l.) als erste Frau den olympischen Eid spricht.
Bild: Hartmut Reeh/dpa/picture alliance/dpa
Montreal 1976 - Hans Günter Winkler
Der erfolgreichste deutsche Springreiter erlebt in Kanada bereits seine sechsten Spiele und ist schon fünffacher Olympiasieger, als ihm die Ehre des Fahnenträgers zuteil wird. Bei seiner letzten Olympia-Teilnahme reicht es für Winkler und sein Pferd Torphy aber "nur" zu Silber mit der deutschen Mannschaft.
Bild: dpa/picture-alliance
Moskau 1980 - Kristina Richter
Vier Jahre später boykottieren die USA und andere westliche Staaten, darunter auch die BRD, die Olympischen Spiele. Für die DDR, die als russischer Vasallenstaat selbstverständlich teilnimmt, trägt Handballerin Kristina Richter die Fahne bei der Eröffnungsfeier ins Stadion. In Moskau gewinnt die Rückraumspielerin mit der DDR-Auswahl die Bronzemedaille.
Bild: Hartmut Reeh/dpa/picture alliance
Los Angeles 1984 - Willi Kuhweide
Als 1984 die USA Olympia-Gastgeber sind, revanchieren sich Russland und andere Ostblock-Staaten ebenfalls mit einem Boykott. So ist die BRD-Fahne die einzige deutsche Fahne bei der Eröffnungsfeier im "Coliseum" von Los Angeles. Sie wird getragen von Segler Willi Kuhweide, der 1964 Gold in der Bootsklasse Finn Dinghy und 1972 im Starboot Bronze gewann. 1984 geht er im Soling leer aus.
Bild: IOPP/dpa/picture-alliance
Sydney 2000 - Birgit Fischer
Was die Anzahl der Medaillen angeht, hätte es keine geeignetere Fahnenträgerin geben können als die Kanutin, die schon 1996 in Atlanta bei der Schlussfeier die deutsche Fahne trug. Fünfmal ist sie vor Sydney bereits Olympiasiegerin und hat zweimal Silber gewonnen. In Australien kommt zweimal Gold hinzu, vier Jahre später in Athen noch einmal Gold und einmal Silber.
Bild: Werek/dpa/picture-alliance
Athen 2004 - Ludger Beerbaum
Im Mutterland der Olympischen Spiele geht mal wieder ein Reiter voran. Der vierfache Olympiasieger weiß zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht, dass ihm die Spiele 2004 in Athen jede Menge Ärger einbringen werden. Wegen einer unerlaubten Medikation bei Beerbaums Pferd Goldfever wird der deutschen Springreit-Mannschaft die Goldmedaille nachträglich aberkannt.
Bild: picture-alliance/dpa/G.Breloer
Peking 2008 - Dirk Nowitzki
Der 2,13 Meter große Basketballer wäre wohl auch ohne Fahne aus dem deutschen Olympia-Team herausgestochen. Für Nowitzki ist es eine "unfassbare Ehre", die Fahne zu tragen. Er ist seit 1952 der erste deutsche Fahnenträger, der zuvor noch keine olympische Medaille gewann. Die gewinnt er auch in Peking nicht: Das DBB-Team wird Fünfter. Unvergessliche Spiele sind es für Nowitzki trotzdem.
Bild: picture-alliance/dpa
London 2012 - Natascha Keller
Die Eröffnungsfeier der Spiele in London setzt mit phantastischen Showelementen und einer unglaublichen Choreographie Maßstäbe. Als erste Deutsche darf Hockeyspielerin Natascha Keller, Olympiasiegerin von 2004, mit der deutschen Fahne in der Hand in die Arena. Sportlich wird es für sie dann eher mager: Die Hockey-Damen enttäuschen und belegen am Ende nur den siebten Platz.
Bild: picture alliance / Gladys Chai von der Laage
Rio de Janeiro 2016 - Timo Boll
Besser läuft es für den deutschen Fahnenträger vier Jahre später: Zwar scheidet Timo Boll im Einzel schon im Achtelfinale aus, tröstet sich aber im Team-Wettbewerb mit der Bronzemedaille. Insgesamt gewinnt Boll vier olympische Medaillen, alle mit der Mannschaft: Silber 2008 und 2020, Bronze 2004 und 2016. Möglicherweise kommt in Paris 2024, bei seinen siebten Spielen, noch eine Medaille hinzu.
Bild: Felix Kästle/dpa/picture alliance
Tokio 2021 - Laura Ludwig und Patrick Hausding
2021 gibt es eine Premiere: Der Deutsche Olympische Sportbund folgt der IOC-Empfehlung und nominiert erstmals ein Paar als Fahnenträger. Die Wahl fällt auf Beachvolleyballerin Laura Ludwig und Wasserspringer Patrick Hausding. Das Vergnügen wird in Tokio allerdings durch die Corona-Pandemie geschmälert. Alle müssen Masken tragen, und im Olympiastadion winkt man nur leeren Tribünen zu.
Bild: Sven Simon/imago images
Paris 2024 - Dennis Schröder
Eine Ehrung nach der anderen. Erst erhält Basketball-Star Dennis Schröder (r.) aus den Händen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l.) das Silberne Lorbeerblatt, die höchste Sportauszeichnung Deutschlands. Und nun darf er bei der Olympia-Eröffnungsfeier in Paris auch noch die deutsche Fahne tragen. Verdienter Lohn für seine Glanzleistung als Spielmacher der Weltmeister-Mannschaft 2023.
Bild: Hannes P Albert/dpa/picture alliance
Paris 2024 - Anna Maria Wagner
Schröder teilt sich die Aufgabe mit Anna Maria Wagner. Zum zweiten Mal nach 2021 hat sich die Judoka in diesem Jahr den Titel der Weltmeisterin gesichert. Die Olympischen Spiele in Paris werden ihre zweiten. 2021 in Tokio gewann Wagner zweimal Bronze. Und nun trägt sie die deutsche Fahne.