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Deutschlands Protestanten mit weiblicher Führung

10. November 2021

Annette Kurschus ist erst die zweite Frau an der Spitze der EKD, mit einer Frau als Stellvertreterin. Ihr Anspruch: Die Kirche soll "prominent und hörbar" bleiben, mit orientierenden Stimmen.

Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus: Präses Annette Kurschus spricht auf der Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen im Tagungszentrum Assapheum in Bielefeld.
Die Neue an der Spitze der Evangelischen Kirche: Annette KurschusBild: David Inderlied/picture alliance/dpa

Eine ungewöhnliche Synode in außergewöhnlichen Zeiten. Nach einem Corona-Fall bei einem beteiligten Bischof vor Beratungsbeginn tagte das wichtigste Gremium der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hybrid. Nur wenige Delegierte bespielten die große Bühne im Bremer Kongresszentrum. Die meisten verfolgten die Debatten am heimischen Rechner - und wählten von dort die neue Spitze: Die ist weiblich geprägt wie nie zuvor. 

Annette Kurschus (58) ist als neue Ratsvorsitzende der EKD künftig das prominenteste Gesicht des deutschen Protestantismus. Sie steht weiterhin als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen vor. Erst zum zweiten Mal nach Margot Käßmann (2009-2010) steht mit Kurschus eine Frau an der Spitze der deutschen Protestanten.

2009 wurde Margot Käßmann als erste Frau EKD-Ratsvorsitzende.Bild: Jörg Carstensen/picture alliance/dpa

Drei Frauen führen

Als stellvertretende Ratsvorsitzende steht Kurschus gleichfalls eine Frau zur Seite, Bischöfin Kisten Fehrs (61) aus Hamburg. Und schon seit Mai 2021 ist auch die Spitze der Synode weiblich besetzt: Die erst 25-jährige Anna-Nicole Heinrich als Präses leitete die Versammlung in Bremen souverän. Übrigens: Auch an der Spitze von Brot für die Welt/Diakonie Katastrophenhilfe steht eine Frau als Präsidentin.

Die Erwartungen an Kirche, sagt Kurschus, seien "immer noch und immer neu groß". Das spiegele sich auch in herber Kritik oder geäußerter Enttäuschung wider. Es sei der "große und kostbare Auftrag" der Kirche in der Welt, die Hoffnung wachzuhalten - Hoffnung, die heute zum knappen Gut werde.

Schon vor ihrer Wahl hatte die Theologin dazu gemahnt, die Kirche müsse "mit profilierten Gesichtern und orientierenden Stimmen" in der Gesellschaft "prominent sichtbar und hörbar sein". Es gehe nicht darum, als Kirche Politik zu machen, sagte sie nach der Wahl vor Journalisten. Aber die Kirche müsse sich zeichenhaft einmischen, wenn es etwa um die Menschenwürde gehe. So sei das Engagement der EKD für die Seenotrettung im Mittelmeer mit einem eigenen Schiff "ein ganz starkes Zeichen".

Mitgliederschwund

Kirchen - hier die Frauenkirche in Dresden - prägen den öffentlichen Raum. Aber die Mitgliedschaft in der Kirche ist längst nicht mehr selbstverständlich. Bild: Marco Becher/picture alliance

Dabei bläst der evangelischen Kirche – wie auch der im Lande der Reformation etwas größeren katholischen Kirche – der Wind ins Gesicht. Die Mitgliedszahlen schrumpfen: 1990 gab es in Deutschland noch knapp 30 Millionen evangelische Christinnen und Christen, 2006 waren es nur noch gut 25 Millionen. In diesem Jahr rutscht die Zahl wohl unter 20 Millionen. Das wird auch die Arbeit der Kirchenspitze in den kommenden sechs Jahren prägen. Denn mit den Mitgliedern schwinden die Finanzmittel. Das wurde bereits in Bremen an einem Detail deutlich: Journalistinnen und Journalisten, die durch die Evangelische Journalistenschule (ejs) geprägt worden waren, hatten darauf gehofft, dass die Synode den Fortbestand der Journalistenschule durch zusätzliche Fördergelder sichern könne. Vergeblich, die kirchlichen Mittel werden knapper.

Im Zentrum der Synode: Die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt. Bild: Sina Schuldt/picture alliance/dpa

Ein wesentliches Projekt der kommenden Jahre ist indes klar – und es prägte die Versammlung wie kein zweites: Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Die ist im Kontext der evangelischen Kirche längst überfällig. Im Frühjahr hatte sie sogar nach nur sieben Monaten einen Betroffenenbeirat aufgelöst, vieles tritt auf der Stelle. Im Zentrum der mehrtägigen Synoden-Beratungen standen zum Teil erschütternde Schilderungen von acht Betroffenen. Mehrere von ihnen beklagten: Nicht nur zum Zeitpunkt des Missbrauchs seien sie von ihrer Kirche allein gelassen worden, sondern auch deutlich später beim Vorgehen gegen die Täter. Gleich mehrfach war der Vorwurf zu hören, Repräsentanten der evangelischen Kirche versteckten sich bei diesem Thema hinter dem Skandal der katholischen Kirche. 

Aufarbeitung von Missbrauch 

Die neue Ratsvorsitzende griff die Forderung der Betroffenen auf, die Aufklärung und Aufarbeitung "zur Chef:innensache" zu machen. "Das werde ich tun", sagte Kurschus zu. Es gehe um verbindliche Konzepte und Strukturen. Und die gesamte Versammlung beschloss zum Abschluss ihrer Beratungen, die Aufarbeitung in den kommenden Jahren finanziell und strukturell entsprechend zu stärken.

Die Neue und der Alte: Annette Kurschus ist Nachfolgerin von Heinrich Bedford-Strohm.Bild: picture-alliance/dpa/C. Jaspersen

Kurschus, ledig und kinderlos, absolvierte ihre theologische Ausbildung zwischen Bonn und Marburg, Münster und Wuppertal. Ihr Vorgänger Heinrich Bedford-Strohm (61), ist mit einer US-Amerikanerin verheiratet, lehrte früh in New York Theologie und kann in seiner Vita Gastvorträge in aller Welt aufzählen. Kurschus fehlt diese weltweite Vernetzung in die Kirchen der Reformation - noch. 

Denn der neuen EKD-Ratsvorsitzenden Kurschus wird diesbezüglich eine besondere Rolle zuwachsen: Ende August 2022 kommt die Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) nach Karlsruhe. Erstmals in der gut 70-jährigen Geschichte des ÖRK tagen die Delegierten aus rund 120 Ländern und 350 Mitgliedskirchen für zehn Tage in Deutschland. Sie werden dann einen deutschen  Protestantismus mit starker weiblicher Führung erleben.