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Zu Besuch bei Angela

Kay-Alexander Scholz15. Mai 2012

Angela Merkel experimentiert mit neuen Formen der Bürgerbeteiligung. Im Kanzleramt in Berlin traf sie Schüler aus dem ganzen Land und wollte im Dialog wichtige Fragen der Zukunft besprechen.

Bundeskanzlerin Merkel Zukunftsdialog (Foto: REUTERS)
Bild: Reuters

Vor dem Treffen mit ihrer Kanzlerin sollten die 50 Schüler auf ein Flipchart schreiben, was sie sich von diesem Tag in Berlin erhofften und auch, welche Befürchtungen sie hätten. Dass sich nichts ändere oder Angela Merkel ihre Vorschläge nicht umsetzen würde, waren die häufigsten Äußerungen der 12- bis 17-Jährigen. Nach ihrem Treffen zeigten sich viele der Jungen und Mädchen überrascht von der Kanzlerin. Die Teilnehmer aus dem sächsischen Chemnitz meinten, Merkel wäre wirklich sehr locker und humorvoll und trotzdem hätten sie den Eindruck, dass sie ernst genommen wurden. Sogar der Satz "Das war cool" fiel - was unter Jugendlichen höchste Zustimmung bedeutet.

In der Tat hat Merkel ihren nun vierten und damit letzten Bürgerdialog im Rahmen des bundesweiten Zukunftsdialogs so gestaltet, dass an vielen Stellen auch ein echter Dialog entstand. Das war bei ihrem ersten Treffen mit Erwachsenen in Erfurt noch anders, als die Teilnehmer Vorschläge machen sollten und Merkel antwortete: "Okay, das nehm ich jetzt mal mit nach Berlin." Jetzt aber fragte sie nach, erzählte Erlebnisse aus ihrer eigenen Jugend, fasste Einzelfragen zu Themen zusammen, erwiderte schlagfertig und erklärte nicht von oben herab. Sie hörte sehr genau zu, wechselte von ernst zu humorvoll und konnte damit die Jugendlichen erreichen, die ordentlich mitmachten.

Der Zukunftsdialog ist eine Initiative der Kanzlerin, um - wie sie sagt - "über Politik nachzudenken, die über den nächsten Wahltermin hinausgeht". Mitte April ging auch der Online-Teil dieses Dialogs zu Ende, der mit fast 12.000 Vorschlägen und 75.000 Kommentaren die Erwartungen an das Internet-Experiment weit übertroffen hat. Alle Vorschläge werden nun von Experten gesichtet, gewichtet und im Herbst der Öffentlichkeit präsentiert. Mitbestimmung und Transparenz sind Themen, die derzeit in Deutschland hoch im Kurs stehen, was sich letztlich auch in den hohen Umfragewerten für die Piratenpartei zeigt, die genau auf dieser Welle surft. Diesen Trend will die Kanzlerin nicht verschlafen. Sie möchte lernen, wie Online-Beteiligungen gut funktionieren, sagte jüngst ihr Regierungssprecher.

Auch die Kanzlerin hatte Vorurteile

"Wie wollen wir zusammenleben? Wovon sollen wir leben? Wie wollen wir lernen?" Zu diesen drei Komplexen hatten die Jugendlichen Vorschläge in ihren Schulen gesammelt, die sie nun der Kanzlerin vortrugen. Ein großes Thema zog sich durch viele Antworten: Die jungen Menschen wollen Gerechtigkeit und wehren sich gegen Diskriminierung, weil sie behindert sind, weniger Geld oder einen Migrationshintergrund haben oder auch wegen ihres Geschlechts. Merkel regte an, auch über eigene Vorurteile, die oft zu Diskriminierungen führten, kritisch nachzudenken und berichtete von einem Erlebnis aus ihrer Jugendzeit. Auf einer Reise durch Polen hatte ihr Begleiter seine Geldbörse im Bus vergessen. Anders als sie vermutet hätten, erzählte die Kanzlerin, sei die Geldbörse zurückgebracht worden.

Bundeskanzlerin Merkel ZukunftsdialogBild: Reuters

Merkel schlüpfte in nicht wenigen Momenten dieses Nachmittags in die Rolle einer Gesellschaftskunde-Lehrerin und brachte die Jugendlichen damit in eine für sie sozusagen alltägliche Situation - was ihr letztlich auch deren Aufmerksamkeit sicherte. "Jetzt brauche ich aber auch ein paar Vorschläge, wie wir Geld einnehmen und nicht immer nur ausgeben können." Oder sie erklärte, dass höhere Löhne für Müllmänner auch höhere Müllgebühren bedeuten würden. Oder dass Deutschland Spitzenverdiener brauche, um viele Steuern einzunehmen.

Wenn Mütter ihren Söhnen die Haare schneiden

Der Dialog hatte zum Ziel, Jugendlichen ein Sprachrohr zu geben. Er diente Merkel aber auch dazu, ihre Politik zu erklären - zum Beispiel beim umstrittenen Thema Mindestlohn. In Deutschland gibt es bisher - anders als in vielen anderen Ländern - keine gesetzlichen, sondern nur branchenspezifische Mindestlöhne. Die Kanzlerin erklärte, wie sehr damit auch Arbeitsplatzsicherheit zusammenhänge: "Wenn der Friseurbesuch wegen zu hoher Löhne zu viel kostet, fangen die Mütter irgendwann an, ihren Söhnen die Haare selber zu schneiden." Und dann habe der Friseur irgendwann keinen Job mehr.

Höhere Energiesteuern für Unternehmen, die viel Strom verbrauchen - von diesem Vorschlag halte sie wenig, "da die Firmen dann in die Ukraine oder nach Russland abwandern". Und das Problem der Solarindustrie erklärte Merkel so, dass die Chinesen mitbekommen hätten, "in Deutschland können sie ihre Solarzellen gut verkaufen und auf der anderen Seite deutsche Firmen technologisch nicht mehr vorneweg sind".

Von wegen Internet-Generation

Natürlich war die Begegnung der Jugendlichen mit Merkel ausgiebig vorbereitet worden. Dennoch gab es einige überraschende Momente. Zum Beispiel den Vorschlag einer Themenwoche im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das in Deutschland den Ruf eines "Rentner-Fernsehens" hat. Merkel fragte sogleich in die Runde, wer dann überhaupt noch ARD und ZDF, also die beiden Hauptsender, schaue und zeigte sich überrascht, wie viele Arme nach oben gingen.

Junge Menschen informieren sich nur noch im Internet und lesen keine Zeitungen mehr, so lautet ein anderes Vorurteil. Doch die Teilnehmer berichteten davon, dass sie gerne Zeitungen lesen und noch mehr darüber im Unterricht reden möchten. Merkels Mundwinkel zuckten wohlwollend überrascht. Was das Wissen über den Medienkonsum von Jugendlichen angeht, hat die Kanzlerin durch den Dialog wohl dazugelernt.

Sorgenvolle Jugendliche

Im dritten Teil des Dialogs unter der Überschrift "Wie wollen wir lernen?" nutzten die Jugendlichen die Gelegenheit, deutliche Kritik am Bildungssystem zu äußern. Viele Schulklassen seien mit 30 und mehr Schülern einfach zu groß zum Lernen. Es fehle an modernen Schulbüchern. Viele Lehrer seien überfordert und hätten Mängel in ihrer pädagogischen Ausbildung. Die Schüler aus Sachsen berichteten von einem immer schlimmer werdenden Lehrermangel, weil viele Lehrer in die westlichen Bundesländer gingen, da sie dort besser bezahlt würden. Ob die Botschaft bei der Kanzlerin angekommen ist? Zwar sagte Merkel am Ende, sie nehme mit, dass eine gute Ausstattung an den Schulen wichtig sei. Schränkte dann aber noch ein, dass das ja eigentlich Angelegenheit der Bundesländer sei, die verfassungsgemäß dafür zuständig sind.

Die Sitzbänke wurden extra angefertigtBild: dapd

Das Dialogtreffen fand im Bundeskanzleramt statt, zwischen der sogenannten Kanzlergalerie mit den Porträts der Merkel-Vorgänger und dem Bereich für die Pressekonferenzen. Die Jugendlichen saßen auf Bänken, die extra für den Zukunftsdialog angefertigt wurden. Der Mann, der alle Sitzkissen am Ende einsammelte und mit dem Abbauen begann, sagte, er hoffe, die Möbel würden weiterhin Verwendung finden. In der Tat, für den Kanzleramtskeller sind diese wohl zu schade, denn einen solchen Dialog zwischen der Regierungschefin und engagierten Jugendlichen sollte es häufiger geben. Davon können alle Seiten nur lernen - auch die Erwachsenen. Denn selten erklärt Angela Merkel so bildhaft ihre Politik.

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