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Gesellschaft

Abenteuer Interflug

Zhang Danhong
1. März 2019

Nachdem Zhang Danhong einen Studienplatz an der Universität Köln und ein Visum bekommen hatte, stand ihrem Projekt "Deutschland" nichts mehr im Weg. Für die Anreise traf sie eine unkonventionelle Entscheidung.

Zhang Danhong Portrait
Bild: vvg-koeln

Für die jüngeren Leser vorab: Interflug war die staatliche Fluggesellschaft der ehemaligen DDR. Die wiederum war das andere Deutschland mit sozialistischer Prägung, das sich im Systemwettbewerb mit der Bundesrepublik geschlagen geben musste. Ist ein Land heruntergewirtschaftet, wird dessen Fluggesellschaft in der Regel wenig Vertrauen entgegengebracht. Oder möchten Sie sich momentan vorstellen, mit Air Venezuela zu fliegen? So wurde meine Entscheidung 1988, mein Leben dem ostdeutschen Interflug anzuvertrauen, von einem Westdeutschen mit der Frage kommentiert: "Bist Du lebensmüde?"

Diese Provokation tat ich als den üblichen Bruderzwist ab. In welcher Verfassung sich die DDR tatsächlich befand, konnte ich damals nicht ahnen. Ich hielt sie immer noch für das Vorzeigeland des sozialistischen Lagers. Und die Entscheidung für Interflug war keine gegen die Lufthansa - ich habe sie aus rein ökonomischen Gründen getroffen. Wenn ich mich nicht irre, kostete der Flug von Peking nach Ost-Berlin 800 D-Mark. Von Peking nach Frankfurt hätte ich bei der Lufthansa rund das Doppelte hinblättern müssen.

Eine MeToo-Geschichte, die glimpflich ausging

Dass ich mich für eine außergewöhnliche Fluggesellschaft entschieden hatte, wurde mir gleich beim Abholen meines Tickets im Pekinger Interflug-Büro klar. Der einzige Mitarbeiter, ein älterer Deutscher mit lichten Haaren und einem vorgelagerten Bauch, ging nach einem kurzen Wortwechsel zur Tür, drehte das "Closed"-Schild nach außen um, schloss die Tür von innen, hob mich wie eine Trophäe in die Luft und setzte mich dann auf seinen Schreibtisch. Ich fühlte mich wie im falschen Film. "Ist das bei Ihnen so üblich?", murmelte ich aus Verlegenheit. Heute ordnete ich diese Begegnung als meine erste MeToo-Geschichte mit einem Deutschen ein, die ich ohne Blessuren überstanden habe.

Ihre erste Reise nach Deutschland mit der damaligen DDR-Fluglinie hat die Autorin in guter ErinnerungBild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Der zweite Ostdeutsche, den ich kennen lernte, war mein Sitznachbar in der Interflug-Maschine. Er stellte geradezu das Gegenkonzept zu dem unappetitlichen Mitarbeiter im Büro der Fluglinie dar: sympathisch, intellektuell und warmherzig. Wir unterhielten uns stundenlang - über meine Pläne in Köln, seine Arbeit in der Botschaft in Peking und über Heinrich Heine. In Ost-Berlin lebte seine Familie, mit der er die Ferien um den Nationalfeiertag (7. Oktober) herum verbringen wollte. Die Nervosität beim ersten Flug in meinem Leben und die Melancholie, die ich nach dem Abschied von meinen Eltern verspürte, gingen in dieser angenehmen Unterhaltung unter.

Koffer weg, Nerven blank

Doch die erste Nervenprobe ließ nicht lange auf sich warten. Mutterseelenallein stand ich am leeren Gepäckband des Ost-Berliner Flughafens Schönefeld. Wo blieb nur mein dunkelblauer Koffer? Alles Mögliche hatte ich mir kurz vor der Reise ausgemalt: Dass ich in der Vorlesung nicht mal die Hälfte verstehen würde; dass ich halb verhungern könnte, weil ich weder Butter noch Käse mochte. Aber dass ich gleich meinen Koffer verlieren würde und quasi nackt nach Köln weiterreisen müsste, damit hatte ich nicht gerechnet.

Nachdem ich bei der Servicestelle den Inhalt meines Gepäcks beschrieben hatte, spürte ich, wie mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Da sprach mich auf einmal ein älterer Herr an: "Ich glaube, ich habe Ihren Koffer aus Versehen genommen." Mir war weder zum Lachen noch zum Heulen zumute (哭笑不得, ku xiao bu de, chinesisches Sprichwort). Ohne ein Wort marschierte ich mit dem Koffer zur Grenzkontrolle und stellte mich in die lange Warteschlange. Ich schaute auf die Uhr: Der Ärger mit dem Koffer hatte mich eine ganze Stunde gekostet. Frauke und Hannes, ein nettes Pärchen aus Mannheim, das mir eine gemeinsame Transfer- und Zugfahrt versprochen hatte, würden bestimmt nicht mehr auf mich warten.

Hier ist die Autorin vor über 30 Jahren gelandet - damals lag der Flughafen auf dem Boden der DDRBild: picture-alliance/dpa/R. Goldmann

Bald verstand ich den Grund der langen Schlange: Alle ausländisch aussehenden Menschen mussten ihre Koffer aufmachen und eine gründliche Kontrolle über sich ergehen lassen. Wieder wurden meine Knie butterweich - nicht, weil ich Drogen oder Waffen mit mir führte, sondern weil mir mein Vater seine Fürsorge noch einmal in den Dienst gestellt und für mich den Koffer gepackt hatte. Gäbe es bei den Olympischen Spielen eine Disziplin Kofferpacken, wäre er mit Sicherheit Anwärter für eine Medaille. Mit anderen Worten: Würde jetzt mein Koffer komplett durchwühlt und ausgeräumt, hätte ich nicht den Hauch einer Chance, ihn wieder zuzubekommen.

Der ostdeutsche Gentleman

Da erschien mein Schutzengel - in Gestalt meines Sitznachbars im Flugzeug. Am anderen Ende der Schlange, hinter dem Grenzbeamten stehend, fragte er laut in meine Richtung: "Wo warst Du so lange?" Der Grenzbeamte drehte sich zu ihm um. Da zeigte der ostdeutsche Gentleman auf mich und sagte: "Das ist meine Frau. Ich habe sie aus dem Auge verloren." Mit einer heranwinkenden Geste signalisierte mir der Beamte, dass ich an der Menschenschlange vorbei direkt zu meinem "Ehemann" kommen sollte. Bestimmt konnten alle den Stein hören, der mir nun vom Herzen fiel. Dann entschuldigte sich mein Schutzengel bei mir, dass er mich spontan duzen musste. Er habe so lange auf mich gewartet, um mir alles Gute zu wünschen und zu sagen, dass er meinen Mut bewundere.

Wenn ich ein Fazit über die ostdeutsche Fluggesellschaft ziehe, so habe ich mich während des Flugs ebenso sicher gefühlt wie später mit dem westdeutschen Kranich. Der zudringliche Mitarbeiter war ein schwarzes Schaf. Und der zeitweise verloren geglaubte Koffer war im Nachhinein eine Zutat, um ein Reiseabenteuer noch würziger zu machen. Schade fand ich nur, dass ich nicht nach dem Namen des ostdeutschen Helden gefragt hatte, der mir viel Wartezeit und eine peinliche Situation erspart hatte. Bald sollte ich erfahren, dass er nicht mein einziger Schutzengel war. 

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie "Deutschsein ist kein Zuckerschlecken" schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.

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