Mittagessen und Tonband hören
8. November 2018Ich weiß nicht, ob den Europäern bewusst ist, wie gut sie es haben. Lernen sie eine andere europäische Sprache und spüren sie eine Neugierde für das entsprechende Land, können sie als Kind an einem Austauschprogramm teilnehmen oder als Erwachsene einfach in das Land fahren - per Schiff, per Flugzeug, per Bahn oder per Auto. Wenn alle Stricke reißen, kommt man auch per Anhalter kostenfrei ans Ziel. Der ganze Kontinent ist überschaubar und aus chinesischer Sicht gleicht jede Entfernung innerhalb Europas mehr oder weniger einem Katzensprung.
Für uns Chinesen, die sich Anfang der 1980er Jahre mit Englisch, Französisch, Deutsch oder Spanisch abplagten, war Europa unvorstellbar weit. Wir waren uns nicht mal sicher, ob wir jemals das Land von innen sehen würden, dessen Sprache wir unsere Jugend widmeten. Selbst wenn es damals die Reisefreiheit gegeben hätte, bewegten sich die Preise für Flugtickets in völlig unerreichbaren Sphären.
Die große Entfernung bot aber auch Raum für Phantasien. So dachten nicht wenige von uns, dass die ehemalige DDR viel wohlhabender sei als die Bundesrepublik, was ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit darstellte, wies der Sozialismus im Vergleich zum Kapitalismus doch einen Systemvorsprung auf. So haben wir es zumindest in der Schule gelernt.
DDR - Paradies auf Erden
Ich fragte meinen in meinen Augen allwissenden Vater. Als Mitarbeiter beim Förderungskomitee für den Außenhandel begab er sich bereits in den 1970er Jahren auf Dienstreisen in die Ostblock-Länder. Er zeigte mir Bildbände über die DDR und sagte: "Ich war zwar nie in der BRD, aber die DDR ist das Paradies auf Erden." Mit Statistiken versuchte er seine Aussage zu untermauern: "Stell Dir vor: Jeder dritte Bürger besitzt ein Auto!" Erst zehn Jahre später wusste ich, was für Autos das waren!
Vorerst blieb das sozialistische Deutschland mit seinen schicken Autos das Land meiner Träume. Dresden und Leipzig waren die Namen, die ich mit einer Weltmetropole assoziierte. In Leipzig hatte übrigens unsere Deutschlehrerin studiert. Der sanftmütigen Frau aus Shanghai haben wir viel zu verdanken. Sie war nicht nur die geduldigste Lehrerin, die man sich vorstellen kann, sie agierte auch als unsere Ersatzmutter am Internat. Wer von uns krank wurde, wurde von ihr mit viel Fürsorge und vor allem leckerem Essen verwöhnt. Heute lebt sie vereinsamt und verarmt in einer Einzimmerwohnung im Vorort von Peking. Eigentlich hat sie ein Bundesverdienstkreuz verdient, hat sie doch in ihrem Berufsleben Hunderte von heranwachsenden Chinesen zu echten Liebhabern der deutschen Sprache und unverbesserlichen Deutschland-Fans gemacht.
Pubertät wegkommandiert
Die ersten Ansätze der Pubertät, für die unsere Lehrerin viel Verständnis zeigte, wurden in der Oberstufe von ihrem Nachfolger im Keim erstickt. Er führte uns fast militärisch. "Keine Liebesbeziehung vor dem Studium" lautete eine seiner Parolen. Wer sich nicht daran halte, solle sich bei ihm nicht mehr blicken lassen. Wenn es nach ihm ginge, sollten wir auch während des Studiums keine Partnerschaft mit dem anderen Geschlecht eingehen. "Die Partei wird sich schon darum kümmern, wie in meinem Fall", pflegte er zu sagen. Darüber haben wir uns zwar amüsiert, doch seine Worte entfalteten abschreckende Wirkung. Die Annäherungsversuche einiger sehr attraktiver Jungs habe ich durch Nichtbeachtung abgewehrt, was mich bis heute noch wurmt.
Doch dadurch konnte ich mich auf meine Lieblingssprache fokussieren. Zur Beherrschung einer Sprache müsse man vier Sachen trainieren, meinte unser Oberbefehlshaber: Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben. Je mehr man hört, desto leichter fällt einem das Sprechen; dasselbe gilt für Lesen und Schreiben. Während überall gelesen und geschrieben werden kann, sind Hören und Sprechen auf eine sprachliche Umgebung angewiesen. Um diese fehlende Umgebung in China zu kompensieren, wurde das Sprechen besonders hart trainiert. So mussten wir alle zwei, drei Wochen einen Vortrag vor der ganzen Klasse halten. Der strenge Lehrer zählte die Anzahl der Sätze und schrieb alle Fehler auf. Je mehr Sätze gesprochen wurden, desto weniger Gewicht hatte jeder Fehler. Meine Glanzleistung war ein Vortrag über den Schriftsteller Lu Xun, bei dem ich 500 Sätze gesprochen und nur ein unregelmäßiges Verb falsch konjugiert hatte.
Pünktchen und Anton auf Kassette
Was ich am meisten vermisste, war das Hören der deutschen Sprache. Außerhalb des Deutschunterrichts war ja nirgendwo Deutsch zu vernehmen, weder in der Bahn noch im Fernsehen. Auf Dauer war ich die Geschichte von Hans und Lieselotte auch leid. Wieder war es mein Papa, der mir bei Schnee Kohle brachte (雪中送炭,ein chinesisches Sprichwort): Er lieh sich von einem Kollegen, der früher mal Deutsch gelernt hatte, stapelweise Kassetten von Klassikern der deutschen Kinderliteratur. In den darauffolgenden Winterferien habe ich dem Hören auf Deutsch täglich zweieinhalb Stunden eingeräumt. In einem detaillierten Plan habe ich unter anderem geschrieben: "12:00 - 12:30: Mittagessen und Tonband hören". So habe ich Erich Kästner kennen- und lieben gelernt.
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie "Deutschsein ist kein Zuckerschlecken" schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.