Übers Ausland in die Nationalelf
3. September 2020Deutschland oder Niederlande? Robin Gosens hatte die Qual der Wahl. "Dass ich mich zwischen zwei fußballverrückten Nationen entscheiden konnte - das ist eigentlich unfassbar!", sagte der Verteidiger des italienischen Erstligisten Atalanta Bergamo der Zeitung "Bild am Sonntag". Gosens wird höchstwahrscheinlich im Nations-League-Spiel am Donnerstag in Stuttgart gegen Spanien (Anpfiff 20.45 Uhr MESZ, ab 20.30 im DW-Liveticker) sein Debüt im deutschen Nationalteam geben wird. "Für mich war es einfach eine Entscheidung des Herzens, zu welchem Land ich mich mehr hingezogen fühle. Und das ist Deutschland, schließlich bin ich hier aufgewachsen, und meine Bindungen sind einfach stärker." Gosens wurde in Emmerich nahe der deutsch-holländischen Grenze geboren, als Sohn eines Niederländers und einer Deutschen. Als Profi hat er jedoch niemals für einen deutschen Verein gespielt. Ein kurioser Werdegang für einen Bald-Nationalspieler.
"Fiasko" bei BVB-Probetraining
Mit 18 Jahren wurde Gosens zu einem Probetraining bei Borussia Dortmund eingeladen, doch es endete in einem "Fiasko", wie sich der heute 26-Jährige erinnert. "Ich konnte überhaupt nicht mithalten." Vielleicht fehlte ihm damals auch noch die professionelle Einstellung. Gosens räumt ein, dass er gerne mit Freunden um die Häuser zog. Im selben Jahr wurde jedoch ein Scout des niederländischen Erstligisten Vitesse Arnheim auf den jungen deutschen Spieler aufmerksam. Bei den Junioren des Klubs setzte er sich durch und schaffte den Sprung in die erste Mannschaft, die von Peter Bosz trainiert wurde, dem heutigen Coach des Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen.
2013 unterschrieb Gosens in Arnheim seinen ersten Profivertrag. Nächste Station war der niederländische Zweitligist FC Dordrecht, an den der Verteidiger Anfang 2014 ausgeliehen wurde und mit dem er ein halbes Jahr später den Aufstieg in die Ehrendivision schaffte. Im Sommer 2015 wechselte Gosens für zwei Jahre zum Erstligisten Heracles Almelo.
Mit Bergamo in die Champions League
Ganz steil aufwärts mit der Karriere ging es für Gosens aber erst in Italien. Im Sommer 2017 heuerte er beim Erstligisten Atalanta Bergamo an. In den beiden vergangenen Spielzeiten erreichte der norditalienische Klub jeweils als Tabellendritter die Champions League - unter maßgeblicher Mitwirkung seines starken linken Verteidigers aus Deutschland, der auch nach vorne für Akzente sorgt. "Für mich spricht vielleicht das Gesamtpaket", sagte Gosens unlängst dem Magazin "Kicker". "Ich habe die Qualität, die ganze linke Seite zu übernehmen, sodass ich offensiv wie defensiv einen Wert habe."
Deutscher Fußball Botschafter 2020
Gosens' Entwicklung blieb nicht unbemerkt. In diesem Jahr gewann er die Publikumswahl zum "Deutschen Fußball Botschafter 2020". Topklubs wie der FC Chelsea, Inter Mailand oder auch Borussia Dortmund signalisierten ihr Interesse, den Außenverteidiger unter Vertrag zu nehmen. Bisher hielt er sich bedeckt, was seine Zukunft betrifft. Nur so viel: "Wenn Schalke anklopft, gehe ich." Zunächst aber klopften die Nationalteams der Niederlande und Deutschlands an. Bundestrainer Joachim Löw erhielt Gosens' Zuschlag und hätte ihn gerne schon bei den ursprünglich im Frühjahr geplanten Länderspielen eingesetzt. Doch die Corona-Pandemie verhinderte zunächst sein Länderspieldebüt.
Acht Wochen Quarantäne
Die Lombardei wurde besonders hart getroffen. Allein in der Provinz Bergamo starben rund 6000 Menschen an COVID-19. Das Achtelfinal-Hinspiel der Champions League zwischen Atalanta und dem FC Valencia (4:1) am 19. Februar vor vollen Rängen soll bei der Verbreitung des Virus in der Region eine große Rolle gespielt haben. Die Stadt, nordöstlich von Mailand gelegen, sei damals "außer Rand und Band" gewesen, erinnert sich Gosens. Acht Wochen war er in Quarantäne. Mitte Juni durften Gosens und seine Teamkollegen bei Atalanta dann erstmals wieder Fußball spielen.
Mit Bergamo erreichte Gosens das Finalturnier der Champions League in Lissabon und scheiterte im Viertelfinale unglücklich mit 1:2 am späteren Finalisten Paris St. Germain. Jetzt steht der nächste Karriereschritt unmittelbar bevor. Weil Marcel Halstenberg vom Champions-League-Halbfinalisten RB Leipzig geschont wird und der Dortmunder Nico Schulz wegen Wadenproblemen abgereist ist, verbleibt Gosens als einziger echter Linksverteidiger in Löws Kader. Und so wird er wohl nach seinem ungewöhnlichen Fußballweg vom Niederrhein über die Niederlande und Italien sein nächstes Etappenziel erreichen: einen Einsatz in der deutschen Nationalmannschaft.