Die Ärmsten der Armen
19. Juli 2007Für die Weltbank ist Armut zählbar. Wer pro Tag weniger als einen US-Dollar in lokaler Kaufkraft zur Verfügung hat, gilt als extrem arm. Im Jahr 2001 galt das für 1,1 Milliarden Menschen – rund ein Fünftel der Weltbevölkerung. Die Armuts-Definition der Weltbank ist das geläufigste aller Kriterien zur Bestimmung des Entwicklungsstandes eines Staates. Die dafür notwendigen Daten sind leicht verfügbar und konsensfähig. Doch schon lange kritisieren Forscher die rein ökonomische Betrachtungsweise als zu allgemein. Seit den 90er-Jahren berücksichtigen alternative Ansätze auch den Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung oder den Anteil der Industrie an Bruttoinlandsprodukt, um den Entwicklungsstand einer Nation zu beschreiben. Die vielleicht umfassendsten Fallstudien betreibt die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD).
Lebensqualität und Verwundbarkeit
Am Donnerstag (19.07.07) hat die UNCTAD einen neuen Bericht vorgelegt über die am schwächsten entwickelten Länder der Welt (kurz LDCs – "least developed countries"). Deren Anzahl sinkt mit dem neuen Bericht um eins auf 49, denn Kapverden erfüllt die LDC-Kriterien – Einkommen, physische Lebensqualität und wirtschaftliche Verwundbarkeit – nicht mehr. "Die Berechnung ist ein komplizierter Prozess", sagt die Ökonomin Zeljka Kozul-Wright, eine der Autoren der Studie. Die erste Voraussetzung, um auf die Liste der am schwächsten entwickelten Länder zu kommen, ist ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 750 US-Dollar. Die Lebensqualität wird nach Ernährung, Gesundheit, der Einschulungsquote und dem Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung bestimmt. Die wirtschaftliche Verwundbarkeit bemisst sich nach Kriterien wie der Instabilität der landwirtschaftlichen Produktion und der Exporte, nach der Gefahr von Naturkatastrophen und der wirtschaftlichen Größe einer Nation.
"Viele Regierungen wollen, dass ihr Land auf der Liste erscheint", sagt Kozul-Wright, "denn sie profitieren davon." So bekommen LDCs besonders günstige Kredite und erleichterten Zugang zum europäischen Markt. Die strengen Bestimmungen des internationalen Patentrechts greifen nur begrenzt, damit die ärmsten Länder zum Beispiel Medikamente günstig selbst produzieren können. Jürgen Wiemann, stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, hält die Kategorisierung für sinnvoll: "Man fokussiert sich zurecht auf die Ärmsten der Armen, um das wenige, das wir an Leistungen haben, an die wirklich Bedürftigen zu richten. Diese Länder sind weit davon entfernt, sich aus eigener Kraft auf dem Weltmarkt behaupten zu können."
Von Staat zu Staat
Reiche Länder richten ihre Hilfsmaßnahmen nach Studien wie der UNCTAD-Liste. Doch Hilfsorganisationen nutzen lieber ihre eigenen Quellen. "Care International orientiert sich nicht an Listen", sagt deren Geschäftsführer Wolfgang Jamann. Man schaue auf den akuten Bedarf, zum Beispiel bei Krisen und Katastrophen. "Wir wünschen, dass der Bericht aufmerksam gelesen und ernst genommen wird", sagt Marion Aberle von der Welthungerhilfe, "aber für uns hat er nicht die große Bedeutung, die er für Regierungen haben sollte." So richtet sich die Welthungerhilfe nach dem Welthungerindex, den sie selbst publiziert. Doch – was für die Studien spricht – die Unterschiede zwischen den Armuts-Listen sind gering: Von den 30 Ländern, die laut Welthungerindex am stärksten von Hunger betroffen sind, stehen 26 auf der UNCTAD-Liste der am schwächsten entwickelten Länder.
Kritiker werfen den Listen-Erstellern vor, durch die Betrachtung ganzer Nationalstaaten regionale Probleme zu vernachlässigen. So steht das regional vom Hunger geplagte Indien nicht auf der UNCTAD-Liste. Zum einen gibt es eine wohlhabende Oberschicht, zum anderen ist eine Bevölkerungszahl mehr als 75 Millionen – in Indien liegt sie bei über einer Milliarde – ein Ausschlusskriterium von der UNCTAD-Liste. "Wenn man so ein großes Land auf die Liste nähme, würde das Volumen der Hilfsgelder nicht reichen, um die Bedürfnisse aller zu decken", sagt Entwicklungsexperte Wiemann. "Global gesehen bekommen Inder pro Kopf nur einen kleinen Bruchteil der Hilfsgelder, die Afrikaner bekommen." Für Kozul-Wright sind sie jedoch auch weniger gefährdet: "Große Länder sind wegen ihrer größeren Märkte weniger verwundbar".
Bauern und Hochqualifizierte
Der Entwicklungshilfe in den ärmsten Ländern der Welt bescheinigt der UNCTAD-Bericht ein Ungleichgewicht: 1,3 Milliarden US-Dollar sind von 2000 bis 2005 in die Verbesserung der Verwaltungen geflossen, nur 12 Millionen – also kein Hundertstel davon – in landwirtschaftliche Projekte. Wiemann sieht die Regierungen dennoch in der Pflicht: "Die Länder selbst müssen die Bildungs-, und Gesundheitssysteme entwickeln und den Lebensstandard steigern". Denn der UNCTAD-Bericht zeigt auch: Zwölf der 49 LDCs haben in den letzten Jahren mehr als ein Drittel ihrer Hochqualifizierten verloren – sie sind einfach ausgewandert.