Die Akte Odessa
2. Mai 2015Der Kulikowe-Pole-Platz ist menschenleer. Nur streunende Hunde liegen auf dem Asphalt. Das Haus der Gewerkschaften trägt bis heute Spuren der Tragödie, die sich hier vor einem Jahr abgespielt hat: Ruß an den Wänden, Fenster ohne Glasscheiben. Das Gebäude, einst kommunistische Parteizentrale, wirkt wie eine Festung. Bei den Unruhen in Odessa am 2. Mai 2014 wollten rund 400 Menschen hinter seinen dicken Mauern Schutz suchen. 42 fanden den Tod.
Schlüsselereignis für die Separatisten
Bei einem Brand erstickten die meisten oder starben an Verbrennungen. Manche sprangen aus den Fenstern, um den Flammen zu entkommen. Es war der Höhepunkt stundenlanger Straßenschlachten zwischen pro-ukrainischen und pro-russischen Aktivisten, bei denen zuvor sechs Menschen durch Schüsse starben. Es gab hunderte Verletzte. Für viele war es der dunkelste Tag in der jüngsten Geschichte der Hafenstadt am Schwarzen Meer.
Auch für die Ostukraine scheint das ein Schlüsselereignis zu sein. Denn es geschah rund eine Woche vor den sogenannten "Referenden" in den Gebieten Donezk und Luhansk über die Abspaltung von Kiew. Das russische Fernsehen zeigte verkohlte Leichen und berichtete, wie "ukrainische Nazis" ihre Russland-freundlichen Mitbürger "bei lebendigem Leibe verbrannt" hätten. Russische Kämpfer auf der Seite der Separatisten sagten in Interviews, "das Inferno von Odessa" habe sie motiviert.
Eine Provokation außer Kontrolle
Ein provisorisches Mahnmal vor dem Haus der Gewerkschaften erinnert an die Opfer. Es gibt Fotos, Blumen, Kränze und Kerzen. "Es ist ein schweres Trauma", sagt Serhij Dibrow, Journalist und Augenzeuge. So etwas habe sein Odessa, bekannt für Toleranz und Lebensfreude, nie zuvor gesehen. "Es widerspricht der Tradition der Stadt", so der 42-Jährige. "Hier werden Probleme friedlich gelöst."
Dibrow ist Mitglied der "Gruppe des 2. Mai". So nennen sich Journalisten, Experten und Aktivisten von beiden Seiten, die eigene Ermittlungen durchgeführt haben. Kurz vor dem ersten Jahrestag der Ereignisse stellte die Gruppe die Ergebnisse vor: Die Tragödie von Odessa sei eine außer Kontrolle geratene Provokation.
Das glaubt auch Urs Schwinger. Der Deutsche betreibt in Odessa eine eigene IT-Firma. "Ich war an dem Morgen am Bahnhof und war total erschrocken: Es kamen Leute mit Handfeuerwaffen heraus", sagt er. Der 49-Jährige fügt hinzu, dass sie orange-schwarze Schleifen trugen - ein Symbol prorussischer Aktivisten. Die Straßenschlachten in der Stadtmitte hat Schwinger zu Hause auf dem Fernsehbildschirm verfolgt. Man habe in Odessa eine ähnliche Situation wie in Donezk schaffen wollen: "Ich denke, das ist aus dem Ruder gelaufen, aber der Beginn kam durch die pro-russische Provokation."
Jagdszenen in der Stadtmitte
Ein Rückblick: Im Mai 2014 ist die Ukraine in Aufruhr. In ostukrainischen Städten besetzen bewaffnete Männer Polizeistationen und Verwaltungsgebäude. In Odessa bleibt es relativ ruhig, doch auch hier zelten pro-russische Aktivisten auf dem Kulikowe-Pole-Platz.
Für jenen 2. Mai ist ein Fußballspiel geplant. Davor ziehen tausende pro-ukrainische Fußballfans, darunter Hooligans aber auch einfache Bürger, durch die Stadtmitte. Sie werden von prorussischen Aktivisten mit Steinen und Stöcken angegriffen. Es wird sogar geschossen. "Aktivisten des Kulikowe-Pole-Platzes haben angefangen, Waffen einzusetzen", sagt Dibrow. Der erste von insgesamt rund 50 Toten an diesem Tag ist ein pro-ukrainischer Aktivist.
Das Versagen der Polizei
Nach seinem Tod eskaliert die Lage. Beide Seiten setzen Waffen ein. Die zahlenmäßig überlegenen pro-ukrainischen Aktivisten jagen ihre Gegner durch die Stadt bis zum Kulikowe-Pole-Platz.
"Es kamen blutüberströmte Jungs und sagten, wir sollten uns im Haus der Gewerkschaften verstecken, denn man werde uns töten und verbrennen", erinnert sich Switlana Abakamowitsch. Die 74-jährige pro-russische Aktivistin ist im zweiten Stock des Hauses der Gewerkschaften, als das Gebäude zu brennen beginnt. Sie verliert mehrmals das Bewusstsein. Am Ende sind ihr Gesicht und ihre Hände verbrannt, doch sie überlebt. Abakamowitsch glaubt, es habe einen Kampfgaseinsatz gegeben. "Bei einem normalen Brand wären meine Haare verbrannt", sagt sie und zeigt auf einem Foto ihr verbranntes Gesicht von damals. Doch die "Gruppe des 2. Mai" fand keine Beweise für diese These.
Fest steht, dass beide Seiten äußerst brutal vorgingen. Das belegen zahlreiche Videoaufnahmen. "Ich war Zeuge, als vom Haus der Gewerkschaften auf pro-ukrainische Aktivisten geschossen wurde, die versucht hatten, Menschen aus dem brennenden Gebäude zu retten", erzählt Dibrow. Er selbst und seine Kollegen geben der Polizei die Schuld: "Hätten die Polizei und der Katastrophenschutz richtig gehandelt, hätte es nicht so viele Tote gegeben." Abakamowitsch bestätigt das: "Die Polizisten haben weggeschaut."
Eine der wichtigsten Fragen bleibt unbeantwortet
Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch die Generalstaatsanwaltschaft. Die Polizei wird beschuldigt, die Unruhen nicht verhindert zu haben. Was die vielen Toten im Haus der Gewerkschaften angeht, so seien weder Beweise für Brandstiftung, noch für einen Giftgaseinsatz gefunden worden. Das Feuer sei auf einer Barrikade aus Holz im Foyer des Hauses der Gewerkschaften ausgebrochen, als beide Seiten Molotowcocktails geworfen haben. Durch eine Art "Kamineffekt" habe es sich schnell ausgebreitet. Es fällt auf, dass die Behörden die zentralen Thesen der freiwilligen Ermittler bestätigen.
Insgesamt wurde gegen 22 Personen Anklage erhoben, die Hälfte davon sitzt in Untersuchungshaft. Weitere 13 Verdächtige sind auf der Flucht, darunter ein Polizeichef und manche Anführer der pro-russischen Kräfte. Früher wurde darüber spekuliert, russische Geheimdienste hätten in Odessa eine Rolle gespielt. In der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft gibt es dazu kein Wort.
Eine der wichtigsten Fragen, die Serhij Dibrow und seine Kollegen bei ihren Ermittlungen nicht beantwortet haben, lautet: Warum tat die Polizei nichts? "Aus Angst, Verantwortung zu übernehmen", so sein Erklärungsversuch. Die Polizei und der Rettungsdienst seien damals in einem "desolaten Zustand" gewesen. Doch vielen in Odessa fällt es schwer, an eine Verkettung der Ereignisse zu glauben. Die einen geben Moskau sie Schuld, die anderen Kiew. Handfeste Beweise wurden bisher nicht gefunden.