Sportler und Social Media
1. März 2022Zhu Yi, in Los Angeles geborene Eiskunstläuferin, hatte sich 2018 entschlossen, China bei Wettkämpfen zu vertreten. Als ihr nun mit dem Kurzprogramm der Damen bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking ein Sprung misslang, stand sie kurz vor dem Aus. Den physischen Schmerz des Sturzes hat sie verwunden, nicht aber den mentalen.
Der Hashtag #ZhuYiFellDown wurde innerhalb weniger Stunden über 200 Millionen Mal auf "Weibo" aufgerufen - das ist das chinesische Pendant zu Twitter. "Was da im Internet gesagt wurde, hat mich wirklich betroffen gemacht", sagte sie der Nachrichtenagentur Xinhua. Das Problem sei jetzt psychologischer Natur. "Weibo" hat nach eigenen Angaben mehr als 2.000 Konten gesperrt und mehr als 71.000 Beiträge gelöscht, nachdem olympische Athleten online beschimpft worden waren. So wie Zhu Yi.
Aber das Problem verschwindet nicht einfach. Cyber-Mobbing gehört zum Alltag vieler Sportler. Eine vom Leichtahtletik-Verband World Athletics während der Olympischen Spiele 2020 in Tokio durchgeführte Studie ergab ein alarmierendes Ausmaß an Missbrauch von Athleten. Darunter waren sexistische, rassistische, transphobe und homophobe Posts, sowie unbegründete Dopinganschuldigungen.
Der Präsident des Verbandes, der Brite Sebastian Coe, bezeichnete das "beunruhigende Ausmaß" des in der Studie aufgedeckten Online-Missbrauchs als "unfassbar" für die betroffenen Athleten, die damit umgehen müssen. "Diese Untersuchung ist in vielerlei Hinsicht beunruhigend. Aber was mich am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass sich der Missbrauch gegen Personen richtet, die ihrerseits durch Leistungen und Talent andere Menschen inspirieren."
Frauen besonders betroffen
87 Prozent der erfassten Beschimpfungen galten Frauen - ein bekanntes Gefühl für die kanadische Tennisspielerin Rebecca Marino. Die 31-Jährige aus Vancouver zog sich 2013 im Alter von 22 Jahren aus dem Sport zurück. Denunzierungen in den sozialen Medien gab Marino als Hauptgrund für ihren Rücktritt an. "Zu Beginn meiner Profikarriere fiel es mir sehr schwer, diese Nachrichten zu ignorieren", sagte Marino der DW. "Diese Kommentare waren erniedrigend; Kommentare über das Aussehen, die Leistung, irgendetwas über deine Familie und natürlich viele Schimpfwörter, die dazu gehörten."
Inspiriert von ihrem verstorbenen Vater Joe gab Marino 2019 ihr Comeback - fünf Jahre nach ihrem letzten Profimatch. Die Spielerin sagt, dass sie immer noch ihre Telefonzeit einschränkt und manchmal bestimmte Apps von ihrem Startbildschirm ausblendet. Zu merken sei aber, dass die Social-Media-Plattformen beginnen, Änderungen zum Schutz der Nutzer zu treffen.
"In der heutigen Zeit helfen die Social-Media-Plattformen den Athleten, Kommentare zu verwalten und zu begrenzen, und die Sportler wissen inzwischen viel besser, wie sie sich schützen können", sagt Marino. "Ich habe jetzt ein starkes Gefühl von Identität und Selbstvertrauen, und mein Selbstwertgefühl ist nicht an meine sozialen Medien gebunden. Das ist etwas, an dem ich sehr hart gearbeitet habe."
Gemeinnützige Organisationen wie "Cybersmile" wurden speziell gegründet, um alle Formen von Mobbing und Missbrauch im Internet zu bekämpfen. Der Kapitän des FC Liverpool, Jordan Henderson, hat im vergangenen Jahr die Kontrolle über seine Social-Media-Konten an diese Organisation übergeben, um auf das Problem aufmerksam zu machen.
Rebecca Marino ist immer noch davon überzeugt, dass die Vorteile der sozialen Medien die Nachteile bei weitem überwiegen. Aber die ehemalige Nummer 38 der WTA-Weltrangliste bezeichnet den Online-Missbrauch dennoch als eine "bedauerliche neue Realität, mit der wir umgehen müssen".
Limaye: "Ich begann meinen Körper zu hassen"
Shireen Limaye, die Kapitänin des indischen Frauenbasketball-Teams, musste sich dieser neuen Realität mehr als einmal stellen. Limaye berichtete, wie sie nach der Niederlage ihres Teams gegen Japan beim FIBA Women's Asia Cup 2021 gemobbt und beschimpft wurde. Während ihrer gesamten Karriere sei sie noch nie mit solchen Kommentaren konfrontiert worden.
"Es begann schon, als ich anfing, für Indien Basketball zu spielen", erzählt Limaye der DW. "Ich habe gemerkt, dass die Leute ständig erbärmliche Dinge sagten, die mich verletzten. Ich bekam Direktnachrichten, in denen es hieß, ich sei zu dick und sähe aus wie ein hässlicher fetter Kerl."
Die Trennung von Privat- und Berufsleben war für Limaye an sich kein Problem, wie sie sagt. Ihr Inneres erzählt jedoch eine andere Geschichte. "Es hat mich sehr beunruhigt, ich hatte eine Zeit lang Depressionen, bis ich mit meiner Familie darüber gesprochen habe", sagte die 27-Jährige. "Ich bekam Selbstzweifel und begann, meinen Körper zu hassen. Ich wurde buchstäblich fettgeschämt."
Limaye und Marino haben nach eigenen Worten nie wirklich daran gedacht, ihre Social-Media-Konten zu löschen. Ganz anders hingegen Eritreas erster Olympiateilnehmer bei Winterspielen, Shannon Abeda. Er hat sich nach den Wettkämpfen in Pyeongchang 2018 sehr ernsthaft die Frage gestellt, ob er seine Online-Präsenz aufrechterhalten solle.
Der 25-jährige Alpine-Skifahrer aus Kanada, der 2011 die eritreische Staatsbürgerschaft annahm und seither an den Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang und 2022 in Peking teilgenommen hat, ist nicht der Meinung von Marino, dass soziale Medienplattformen positive Veränderungen bewirkt haben. Er findet vielmehr, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden müssen. "Sie wollen sich nicht einmal die Mühe machen", sagt Abeda der DW. "Ich habe neulich persönlich einige entsetzliche Kommentare gegenüber Mikaela Shiffrin gemeldet, und Twitter hat einfach gesagt, dass sie keinen Verstoß gefunden haben."
Ihn hätten die meisten Kommentare demotiviert, vor allem in Pyeongchang 2018. "Ich habe mich in meinem Sport nicht sicher gefühlt", sagte er. "Ich dachte, wenn ich stürze, werden mich die Leute mehr angreifen, weil ich nicht ins Ziel komme. Ich werde nur noch mehr Hass erfahren."
Sportwetten ein wiederkehrendes Thema
Die World Athletics-Studie ergab, dass die häufigsten Arten von Beschimpfungen sexistischer (29 %) oder rassistischer (26 %) Natur waren. Dies deckt sich mit den Erfahrungen des deutsch-libanesischen Tennisspielers Benjamin Hassan, der nach einem Turnier in Karlsruhe erstmals rassistische Botschaften erhielt. "Die Nachricht lautete: Geh zurück in dein Land", sagte Hassan der DW. "Geh dahin zurück, wo du herkommst." Seither ist Hassan regelmäßig Ziel von Online-Beschimpfungen.
Der 27-Jährige berichtet: "Es gab eine Zeit, in der ich versucht habe, sie zu löschen, aber ich kann einfach nicht mit der schieren Menge an schrecklichen Kommentaren mithalten." Anfang 2018 befragte die Zeitung "The Telegraph" 20 Tennisspieler, die alle von ständigen Beschimpfungen in den sozialen Medien und sogar Todesdrohungen nach Niederlagen berichteten. Viele stammten dabei offenbar von Nutzern, die Geld bei ihrem Match verloren hatten.
"Was wäre passiert ...?"
Hassan berichtet von einem Erlebnis bei einem Turnier in der tschechischen Stadt Prostejov. Während eines Matches bemerkte Hassan eine Gruppe von vier oder fünf Männern auf der Tribüne, die ihn bei jedem Punkt anfeuerten und beklatschten. "Ich war zuerst sehr verwirrt, weil ich diese Leute nicht kannte", sagte er. "Aber dann habe ich gemerkt, dass sie eine Wette auf mich abgeschlossen hatten. Ich habe das Spiel gewonnen. Aber was wäre passiert, wenn ich nicht gewonnen hätte? Ich weiß es nicht."
Rebecca Marino kehrte 2021 bei den Australian Open ins Grand-Slam-Tennis zurück, acht Jahre nach ihrem Rücktritt. Vieles hat sich geändert, aber eine Frage beschäftigt sie noch immer. "Man würde jemandem nie etwas so Gemeines und Verletzendes ins Gesicht sagen. Warum ist es dann akzeptabel, es anonym im Internet zu tun? Das ist etwas, das ich nie wirklich verstanden habe."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.