Drohkulisse
23. April 2013Fast die gesamte nördliche Küstenlinie von Baengnjeong ist mit Stacheldrahtzaun und Zementmauern abgesichert. Nur von wenigen Häfen aus können Fischerboote in See stechen. Doch zurzeit nutzt kaum noch jemand diese ohnehin schon begrenzten Möglichkeiten. "Unter normalen Umständen könnte ich mit meinem Boot fünf Minuten rausfahren und dort fischen. Aber jetzt, bei den massiven Drohangriffen Nordkoreas, würde ich niemals so weit rausfahren", sagt der Fischer Lee Hwan-sun, während er die Löcher in einem riesigen orangen Fischernetz stopft.
Baengnjeong liegt nur 15 Kilometer von nordkoreanischem Territorium entfernt. Vor einem Monat befahl der nordkoreanische Diktator Kim Jong Un seiner Armee, im Falle eines Krieges die Insel ins Visier zu nehmen. Die Gewässer des Gelben Meers sind zwar schon seit langem ein Zankapfel zwischen den beiden koreanischen Staaten. Aber noch nie waren die Bewohner der dortigen Inseln so besorgt wie jetzt.
Fünf Frauen um die 70, die sich in einem anderen Hafen auf Holzbrettern niedergelassen haben, sagen, sie hätten von Pjöngjangs Kriegsandrohungen jetzt wirklich genug. Sie alle halten den jungen Führer des Nordens für unberechenbar. "Kim Jong Un ist noch schlimmer als sein Vater, Kim Jong Il. Niemand weiß, wann er eine Rakete losschießt. Wir haben alle Angst", erklärt eine der Frauen.
Auf einen Angriff vorbereitet
Die Insel verfügt über viele Schutzvorrichtungen gegen eine Invasion aus dem Norden. Tausende von südkoreanischen Soldaten und Marineeinheiten sind auf Baengnjeong stationiert. Zum Schutz von Zivilisten sind 90 Bunker über die Insel verteilt.
In einem dieser Bunker zeigt Kim Jin-guk auf einer Karte an der Wand, wie nahe Baengnjeong an Nordkorea liegt. Er steht der zivilen Verteidiungseinheit vor. Er sagt, die Einheimischen täten Pjöngjangs Gerede vom Krieg nicht als leere Drohungen ab, so wie viele Südkoreaner dies tun, die von der Grenze weiter entfernt wohnen. "Die Wahrscheinlichkeit angegriffen zu werden, ist hier viel höher als sonstwo. Deshalb haben die Leute hier viel mehr Angst als die Bewohner von Seoul oder anderen Landesteilen", sagt er.
Auch Kim ist besorgt. Er hat weniger Angst vor einem großen Krieg als vielmehr vor einem kleinen Überraschungsangriff, wie Nordkorea ihn beispielsweise 2010 gegen die benachbarte Insel Jeongpjeong führte. Dabei wurden vier Südkoreaner getötet. Sollten Bomben auf Baengnjeong fallen, ertönt eine Sirene, sodass die Bewohner sich in den Bunkern in Sicherheit bringen können. Aber natürlich hofft Kim, dass es nicht so weit kommen wird.
Tourismus betroffen
Noch aus einem anderen Grund werden die nordkoreanischen Drohungen hier ernster genommen als anderswo. Sobald Pjöngjang Südkorea bedroht, ist der Lebensunterhalt der Inselbewohner in Gefahr. Der Tourismus ist hier eine Haupteinnahmequelle. Pjöngjangs Rhetorik hält die Besucher fern. Fährunternehmen, die Touristen hin- und herfahren, denken darüber nach, den Verkehr einzustellen, falls sich die Krise weiter hinzieht.
Der Eigentümer des Mun-hwa Hotels, Park Dong-sik, beklagt, dass der Fremdenverkehr sehr in Mitleidenschaft gezogen worden ist. "Die Spannungen zwischen Nord- und Südkorea und Medienberichte über Baengnjeong haben meine Gäste dazu veranlaßt, bis in den Juni hinein ihre Reservierungen zu stornieren. Das hat sich auch auf andere Unternehmen hier sehr negativ ausgewirkt. Ich kann mich an keine noch schlimmere Lage erinnern."
An diesem Tag hat Park Glück. Etwa 40 Touristen aus einem Ort außerhalb von Seoul übernachten in seinem Hotel. Sie gehören einem Reiseclub für Rentner an und zeigen sich wenig beeindruckt von Nordkoreas Drohgebärden. "Was macht das denn für einen Unterschied, ob wir hier auf der Insel sind oder zu Hause?", fragt einer der Rentner. "Wenn sie die Insel angreifen, dann wird Krieg im ganzen Land ausbrechen. Jeder einzelne Teil von Südkorea wird zum Schlachtfeld werden."
Die Insel verlassen wollen sie nicht
Wenn ihr Aufenthalt vorüber ist, werden diese Touristen abreisen. Doch die Einwohner von Baengnjeong, wie der Hotelbesitzer Park Dong-sik, wollen auf ihrer Insel bleiben. "Ich habe vor Nordkorea keine Angst. Ich vertraue den hier stationierten Soldaten, dass sie uns beschützen werden, falls es wirklich zum Krieg kommt. Egal, wie schlimm es auch immer kommen mag, ich werde diese Insel niemals verlassen."
Sogar der Fischer Lee Hwan-sun, dessen Lebensunterhalt in Gefahr ist, kann sich nicht dazu durchringen zu gehen. "Meine Kinder haben meine Frau und mich dazu aufgefordert, die Insel zu verlassen und mit ihnen aufs Festland zu ziehen. Nach all dem Kriegsgeschrei von Nordkorea habe ich auch darüber nachgedacht. Aber wenn wir alle gehen, was soll dann aus der Insel werden?"
Lee nutzt die Zeit, um seine Arbeitsgeräte in Ordnung zu bringen. Sobald die Situation ihm es wieder erlaubt, mit seinem Fischerboot rauszufahren, will er startklar sein.