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KonflikteUkraine

Beschwerliche Flucht nach Estland

Manuel Orbegozo
16. Oktober 2022

Ukrainische Flüchtlinge warten oft tagelang an der Grenze zwischen Russland und Estland. Auf der einen Seite machen die Russen die Ausreise schwer, auf der anderen Seite behindert Estland die Einreise.

Lange Schlange Wartender am Grenzübergang Kunichino Gora
Russland lässt pro Tag nur wenige ukrainische Flüchtlinge die Grenze überquerenBild: Aleksandra Averjanova

Für viele Ukrainer in Russland ist die Flucht in die Europäische Union mehr als nur eine anstrengende Reise, deren Vorbereitung oft Wochen in Anspruch nimmt. Es ist ein Kampf ums Überleben.

Sechs Tage lang wartete Annika bei Regen und Kälte am Grenzübergang Kunichina Gora darauf, die Grenze von Russland nach Estland überqueren zu dürfen. Diese Tage überzeugten sie davon, dass die russischen Behörden jede Menschlichkeit verloren haben. "Ich habe geweint, geschluchzt, als ich die kleinen Kinder sah. Diese Grausamkeit zu sehen, zu sehen, wie unter diesen Umständen jeder unvermittelt zum Unmenschen wird." 

Als 2014 die ersten Explosionen in Donezk und Luhansk in der Ukraine die Ankunft dessen ankündigten, was Präsident Wladimir Putin die "russische Welt" nannte, verließ Annika (deren Namen wir zu ihrem Schutz geändert haben) ihr Dorf in der Nähe von Mariupol und floh in das relativ sichere Kiew.

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar versuchte sie, zu ihren betagten Eltern zu kommen, die in der besetzten Region Donezk geblieben waren. Nachdem sie den Kontakt zu ihnen mehrere Monate lang verloren hatte, gelang es ihr schließlich mit Hilfe ehrenamtlicher Unterstützer, sie im September in Moskau zu treffen. Für Ukrainer in den russisch besetzten Gebieten, die vor dem Krieg fliehen wollen, ist dies die sicherere Route.

Nach zehn Tagen in Russland machte Annika sich alleine auf den Weg zum Grenzübergang Shumilkino. Dort wartete nicht nur eine lange Schlange von Autofahrern darauf, die Grenze zu überqueren, sondern auch mindestens 2000 weitere Personen, die zu Fuß unterwegs waren. Am 29. September reiste die Vierzigjährige weiter zum Grenzübergang Kunichina Gora, wo sie sechs Tage wartete, bis sie die Europäische Union betreten konnte. "Wir brauchen keine Feinde", merkt sie verbittert an. "Wir haben die 'russische Welt'."

Ausreisewillige Ukrainer haben es schwer

Annika ist überzeugt, dass die schlechte Behandlung an der Grenze Teil der Kriegsführung Russlands gegen die Ukraine ist. Ihren Berichten zufolge ließen die Grenzposten Ukrainer absichtlich warten, während Bürger anderer Staaten vor ihnen die Grenze passieren durften. 

Ihre erste Nacht am Grenzübergang verbrachte Annika unter freiem Himmel, danach fanden ehrenamtliche Helfer in einem nahegelegenen Dorf eine Unterkunft für sie. Alle acht Stunden musste Annika zu ihrem Platz in der Warteschlange zurückkehren. Dort warteten etwa 600 bis 800 angsterfüllte Männer - größtenteils ukrainische Flüchtlinge - ohne Wasser und Nahrung. Frauen und Kinder warteten an anderen, überdachten Orten.

Bei Wind und Wetter müssen die Flüchtlinge tagelang auf die Ausreise wartenBild: Aleksandra Averjanova

Am schlimmsten war es am vierten Tag. "Die Äste der Bäume bogen sich im Wind und brachen. Es fühlte sich an, als wären es zwanzig Grad unter Null. Wir suchten Schutz, weil uns die Hände abfroren", so beschreibt Annika die zwei Tage, in denen sie mit einer verzweifelten Menge bei strömendem Regen auf einer Böschung saß. "Ich war völlig durchnässt. Aus jedem Stiefel goss ich ein Glas Wasser."

Vom 2. bis 4. Oktober, an den Tagen, die für Annika die schlimmsten waren, verzeichnet der Wetterdienst für den Kunichina Gora nächstgelegenen Ort Temperaturen zwischen 5 und 11 Grad Celsius. An beiden Tagen regnete es ununterbrochen. Während eines Zeitraums von 24 Stunden wurden nur fünf Ukrainer über die Grenze gelassen, berichtet sie.

Mariupoli Sobrad, eine Freiwilligenorganisation, die humanitäre Hilfe für Ukrainer leistet, bestätigt, dass in der letzten Septemberwoche an mindestens drei Grenzübergängen zu Estland tausende Flüchtlinge daran gehindert wurden, Russland zu verlassen. "Die russischen Grenzbehörden haben die Kontrollen verschärft. Sie versuchen, Leute zu erwischen, vermutlich Männer, die Russland und der (Teil-)Mobilmachung entkommen wollen", meint Aleksandra Averjanova, Vorstandsmitglied der Organisation, die ukrainische Flüchtlinge auch dabei unterstützt, die Grenze nach Estland zu überqueren.

"Es sieht so aus, als würden sie schikaniert", schreibt ein freiwilliger Helfer, der die Grenzübergänge Shumilkino und Kunichina Gora besucht hat, in einem Telegram-Chat. Das Gerücht machte die Runde, dass zwei Frauen gestorben seien, während sie auf den Grenzübergang warteten. Averjanova bestätigt, dass sich im Verhörraum am Grenzübergang Iwangorod ein Ukrainer mit einer Glasscherbe die Kehle aufgeschnitten hatte.

Als Annika endlich Estland erreicht hat, bricht sie in Tränen aus. Mit einer Tasse warmem Tee in den Händen, den ihr estnische Grenzbeamte gegeben haben, fragt sie sich, wie im 21. Jahrhundert solche Erfahrungen möglich sind. "Wenn so Vertriebene behandelt werden, wie behandeln sie Gefangene, wie behandeln sie Soldaten?"

Estland weist Ukrainer am Grenzübergang Narwa ab

Schon Mitte des Sommers berichteten andere ehrenamtliche Helfer von Vorboten dieser humanitären Krise. Denn nachdem Estland Russen mit Schengen-Visum die Einreise verbot, stieg auch die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge, denen die Einreise verweigert wurde, drastisch an.

Danylo ist in Donezk geboren (um seine Identität zu schützen, nennen wir hier nur seinen Vornamen). Er besuchte gerade Verwandte in Russland, als der russische Einmarsch am 24. Februar seine Welt erschütterte. Ihm war klar, dass er nicht genügend Geld hatte, um direkt in die Ukraine zurückzukehren. Fünf Monate lang nahm der Fünfundzwanzigjährige verschiedene Gelegenheitsjobs an, um zu überleben und Russland verlassen zu können. Oft hatte er es dabei mit skrupellosen Subunternehmen zu tun und musste unter erbärmlichen Bedingungen arbeiten und leben. Er war verzweifelt. Um legal im Land leben und arbeiten zu können, hätte er die russische Staatsbürgerschaft annehmen müssen. Dies wäre für ihn möglich gewesen, aber er zögerte, weil er nicht mit seinen Steuern zur Finanzierung der russischen Armee beitragen wollte.

An den Grenzübergängen bilden sich lange Schlangen von AusreisewilligenBild: Aleksandra Averjanova

Erst hatte er sich nicht an ehrenamtliche Helfer wenden wollen, doch Mitte August versuchte er mit ihrer Hilfe, über den Grenzübergang Narwa nach Estland und damit in die Europäische Union zu gelangen. Er plante, seine Mutter und seinen Bruder in Deutschland zu treffen. "Sie fragten mich, warum ich so lange in Russland geblieben war", erzählt er von seiner Befragung durch die estnischen Grenzbeamten. Nach drei Stunden teilten sie ihm mit, dass er nicht einreisen könne, weil er die Ukraine vor Kriegsbeginn verlassen hatte. Sie sagten, am nächsten Tag könne er versuchen, als Tourist einzureisen, wenn er Versicherungspapiere, eine Rückfahrkarte, einen Nachweis über eine Unterkunft sowie Bargeld vorweisen könne. Letzteres wollte ihm seine Mutter nach Estland überweisen.

Die kommende Nacht schlief Danylo zum ersten Mal in seinem Leben unter freiem Himmel auf einem Feld. Als er am nächsten Tag mit den angeforderten Dokumenten wieder am Grenzübergang stand, wiesen ihn die estnischen Grenzbeamten erneut ab, diesmal mit der Begründung, dass er am Tag zuvor bereits abgewiesen worden sei. Sie sagten ihm auch, dass er nicht mehr zurückkehren solle.

Am Tag darauf, nach einer deutlich längeren Reise, überquerte er problemlos die Grenze nach Finnland. Ein anderer Ukrainer, der ebenfalls zuvor abgewiesen worden war, leistete ihm Gesellschaft.

Vor allem ukrainische Männer im Visier

Estnische Behörden bestätigen, dass seit Beginn des Krieges mindestens 1091 Ukrainern die Einreise in die Europäische Union über Estland verweigert wurde. Allein im September wurden 306 Ukrainer abgewiesen, dreimal so viele wie in den ersten drei Monaten des Krieges.

"Möglicherweise wird eine Person nicht ins Land gelassen, weil sie die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit gefährdet", erläutert Egert Belitsev, Leiter der Grenzschutzbehörde Estlands. Seit dem 24. Februar sind etwa 109.000 Ukrainer nach Estland eingereist. "Diejenigen, denen die Einreise verweigert wurde, sind zum Beispiel Personen, die schon lange in Russland leben und arbeiten und die nicht als Flüchtlinge nach Estland kommen, sondern als Touristen oder um Verwandte oder Freunde zu besuchen", führt Belitsev weiter aus.

Estland: Narwa und die Russen

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Obwohl hierfür keine rechtliche Grundlage besteht, scheinen die estnischen Behörden insbesondere ukrainische Männer ins Visier zu nehmen, die sich ihrer Einschätzung nach zu lange in Russland aufgehalten haben. Die Deutsche Welle sprach mit einem weiteren ukrainischen Flüchtling, dem die Grenzbeamten am Übergang Narwa die Einreise mit der Begründung verweigerten, er sei zu lange in Russland gewesen. Er hatte die Ukraine nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar verlassen und sich dafür entschieden, nicht durch das Kriegsgebiet zu reisen, sondern die einfachere Route über Russland zu nehmen. Um die Grenze zu Estland zu erreichen, benötigte er zwei Wochen. Ein weiterer Flüchtling berichtete, dass ihm die Überquerung der Grenze zu Lettland mit der gleichen Begründung verweigert worden sei.

"Wir lassen nicht jeden ins Land, der behauptet, er sei Ukrainer", widerspricht Kaimo Kuusk, Estlands Botschafter in der Ukraine. "Zu viel Zeit in Russland heißt nicht zwei Wochen. Wir sprechen von mehr als zehn Jahren." Die Realität sieht anders aus. Das harte Vorgehen Estlands zieht die Schwierigkeiten nicht in Betracht, die sich für Ukrainer auftun, die vor dem Krieg fliehen.

Es kann Wochen dauern, eine Flucht zu organisieren oder sich von der Flucht aus den vom Krieg zerrütteten Gebieten der besetzten Ukraine zu erholen, betonen ehrenamtliche Helfer. Wer es geschafft hat, die Grenze zu überqueren, dem wird der Kontrast zwischen zwei sehr verschiedenen Realitäten bewusst. "Die Menschen atmen einmal tief durch und es wird ihnen klar, dass sie es von der Hölle in die Zivilisation geschafft haben", sagt Annika.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

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