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Politik

Die beschwerliche Flucht im Rollstuhl

Nina Niebergall
29. März 2017

Nujeen Mustafa kann nicht laufen, trotzdem ist die Syrerin unter extremen Bedingungen nach Deutschland geflohen. Nun konfrontiert sie EU-Politiker mit der Situation behinderter Flüchtlinge. Von Nina Niebergall, Brüssel.

Nujeen Mustafa syrische Migrantin
Bild: picture-alliance/PIXSELL/Z. Lukunic

Ein Raum voller Politiker, Menschenrechtler und Journalisten - und dennoch sind alle Augen auf sie gerichtet: Nujeen Mustafa. Das Schicksal der 18-jährigen Syrerin bewegte im Sommer vor zwei Jahren die Welt. Damals floh die junge Frau zusammen mit ihrer Schwester über das Mittelmeer bis nach Deutschland - und zwar im Rollstuhl. An diesem Vormittag erzählt sie im Europäischen Parlament von Syrien, ihrer Flucht und dem neuen Leben in Deutschland.

"Als Jugendliche einen Krieg zu erleben ist ohnehin keine schöne Sache", beginnt Nujeen ihre Erzählung in flüssigem Englisch. Aber für sie sei es umso nervenaufreibender gewesen, weil sie ständig Angst hatte, ihre Familie könne wegen ihr nicht nicht in Sicherheit gebracht werden. Nujeen wuchs mit ihren Geschwistern in Aleppo auf. Sie ist Kurdin. Als immer mehr Bomben auf ihre Heimatstadt fielen und die Terrormiliz "Islamischer Staat" näher rückte, beobachtete die junge Frau, wie sich mehr und mehr Syrer auf den Weg nach Europa machten. Nujeen erzählt, irgendwann sei der Moment gekommen, als ihre Brüder zu ihr sagten: Du musst fliehen, sonst ist es bald zu spät.

"Mein Rollstuhl wurde zur Last"

Nujeen und ihre Schwester fuhren also in die Türkei, wo sie in ein Schlauchboot stiegen, das sie auf die griechische Insel Lesbos bringen sollte. "Mein Rollstuhl wurde zur Last", erzählt Nujeen. Sie hatte Angst, ihn über Bord werfen zu müssen, um Gewicht zu sparen. Letztlich sei das nicht nötig gewesen, erinnert sich die 18-Jährige.

"Aber der härteste Teil stand mir noch bevor." Sie berichtet von Flüchtlingslagern entlang der Balkanroute, davon wie schwierig es für sie war, ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu erfüllen. "Es ist eine traurige Tatsache, dass Toiletten im 21. Jahrhundert für einige Menschen noch immer ein Luxus sind."

Nujeen Mustafa im Europäischen Parlament: "Eine der Glücklichen"Bild: Human Rights Watch

Ihre Erlebnisse spiegeln die Situation vieler Flüchtlinge wider, die traumatisiert, chronisch krank oder mit einer Behinderung den beschwerlichen Weg nach Europa auf sich nehmen. Aktivisten von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erzählen von Ali, einem 8-jährigen Jungen aus Afghanistan, der in Griechenland festsitzt. Traumatisiert von den Erfahrungen in seinem Heimatland könne er seine Beine nicht mehr bewegen, leide zudem an einer Lernschwäche, berichtet Emina Cerinovic von Human Right Watch. "Ihn mit acht Jahren nochmal in Windeln zu stecken, war die einzige Möglichkeit, die seine Eltern hatten." 

Ein anderes Schicksal ist das eines tauben Mannes, der sich in Syrien kaum vor den Bomben schützen konnte, weil er die Sirenen nicht hörte. Er entflieht seiner Lage, um wenig später in einem griechischen Flüchtlingslager zu landen. Dort kann er monatelang kaum begreifen, was um ihn rum vor sich geht. Um ein Hörgerät kümmert sich niemand.

Wohin geht das Geld?

Menschen mit Behinderung machen etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Wie hoch der Anteil der Menschen ist, die aus den Kriegsgebieten dieser Welt fliehen, weiß niemand so genau. Menschenrechtler machen dafür das System der Behörden verantwortlich, die besonders hilfsbedürftige Menschen nicht als solche registrieren. Die Mitarbeiter von Human Rights Watch und dem European Disability Forum erheben eine ganze Reihe von Vorwürfen: Für Asylsuchende und andere Migranten mit Behinderungen sei es besonders schwer, Zugang zu Unterkünften, sanitären Einrichtungen und Gesundheitsversorgung zu erhalten. Nur selten würden sie psychisch betreut.

An die Adresse der EU-Politiker stellen sie daher die Frage: Wieso bekommen Flüchtlinge nicht die Hilfe, die sie brauchen - trotz der erheblichen Mittel, die Brüssel für ihre Versorgung zur Verfügung stellt?

Europaabgeordneter Bonifei und EU-Kommissar Stylianis versprechen mehr Einsatz für behinderte FlüchtlingeBild: Human Rights Watch

Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Christos Stylianides, soll an diesem Tag eine Erklärung liefern. Tatsächlich habe die Europäische Kommission der griechischen Regierung über 125 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, berichtet er. Fast 370 Millionen Euro gingen an Hilfsorganisationen, darunter an das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. "Wir stehen immer noch vor vielen Herausforderungen, vor allem auf den griechischen Inseln", gibt Stylianides zu. Deshalb sollen weitere 250 Millionen Euro nach Griechenland fließen. Die Kommission stehe täglich mit den griechischen Behörden in Kontakt, um für behindertengerechte Unterkünfte, barrierefreie Duschen und flüssige Nahrung zu sorgen.

"Zu spät und zu wenig"

"Wir müssen strenger kontrollieren, wer über das Geld verfügt", sagt Brando Benifei. Der Italiener sitzt für die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. "Offensichtlich muss auch die griechische Regierung besser mit den EU-Behörden kooperieren, damit das Geld alle Flüchtlinge erreicht". Auch die Union spricht er nicht von ihrer Verantwortung frei: "Leider haben wir heute eine EU, die zu spät und zu wenig reagiert."

Flucht im Rollstuhl - von Aleppo nach Deutschland

02:36

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Davon zeugen die gut 50.000 Flüchtlinge, die derzeit auf den griechischen Inseln festsitzen und darauf warten, auf die EU-Länder verteilt zu werden. Zuletzt hatte Österreich gedroht, komplett aus dem 2015 beschlossenen Umsiedlungsprogramm auszusteigen. Der Vorwurf aus Wien lautet: Während Österreich bereits überproportional viele Flüchtlinge aufgenommen habe, würden andere EU-Staaten ihrer Pflicht nicht gerecht. Auch Deutschland hat EU-Zahlen zufolge bisher lediglich 3000 Menschen ins Land gelassen. Tatsächlich hat sich Berlin aber verpflichtet, 24.400 Flüchtlinge aufzunehmen. Insgesamt sind erst rund 15.000 Migranten verteilt worden.

Ein bisschen Veränderung

Letztlich sind es also diejenigen, die nicht mit am Tisch sitzen, die wirklich etwas verändern könnten: Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Sie erinnert Nujeen Mustafa an eine einfache Tatsache: "Wenn ihr nicht wollt, dass diese Menschen leiden, solltet ihr sie nicht so lange dort festhalten." 

"Ich betrachte mich selbst als eine der Glücklichen", sagt die junge Syrerin. Dafür, dass sie im Europäischen Parlament von ihren Erfahrungen berichten konnte, sei sie sehr dankbar. "Mein Ziel war es, dass das, was ich hier sage, ein bisschen etwas verändern kann - für Flüchtlinge mit Behinderung, aber auch für alle anderen Flüchtlinge."

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