Die Bin-Laden-Lücke im Terrornetzwerk
1. Mai 2012Er starb nach einem 40-minütigen Feuergefecht seiner Bodyguards mit amerikanischen Spezialeinheiten, die im Morgengrauen des 2. Mai mit ihren Hubschraubern in unmittelbarer Nähe seines Verstecks im Villenviertel der pakistanischen Garnisonsstadt Abbotabad gelandet waren. Von hier aus hatte der meistgesuchte Terrorist die Welt immer wieder mit Drohungen in Atem gehalten, auch wenn man heute weiß, dass sein Einfluss schon damals eher begrenzt war. "Er war ja in seinem auch technologisch abgeschotteten Haus in Abbotabad vor allem mit seiner Eigensicherung beschäftigt. Von daher ist der Al-Kaida zwar die Symbolfigur abhanden gekommen, aber operativ hatte Osama bin Laden schon lange keinen Einfluss mehr auf geplante Terroraktionen", sagt der Terrorspezialist Rolf Tophoven im DW-Gespräch.
Die verlorene Führungsfigur
Nach 9/11 war bin Laden vor allem ein Gehetzter ohne Rückzugsgebiet. Die Symbolfigur des globalen islamistischen Terrors wurde weitgehend unbrauchbar für das operative Geschäft von Al-Kaida. Der reiche saudische Geldgeber von einst war in seinem Versteck zum Risiko geworden, das immense Ressourcen verschlang. Unmittelbar nach seinem Tod schrieb der pakistanische Taliban-Kenner Ahmed Rashid in der Berliner Zeitung: "Hunderte einsatzbereiter Möchtegern-Dschihadisten werden heute trauern und schwören, dass sie ihr Leben geben werden, um Bin Laden zu rächen." Doch sein Tod taugte selbst aus islamistischer Sicht nur bedingt zur Märtyrerlegende und der Mobilisierungseffekt, den Rashid und viele Sicherheitsexperten nach seiner Tötung weltweit befürchtet hatten, ist bislang, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt eingetreten. Aus heutiger Sicht wiegt sein Tod nach Ansicht des Terrorismusforschers Guido Steinberg für Al-Kaida vor allem aus einer Hinsicht schwer: "Was sich verändert hat ist, dass eine ganz wichtige Führungspersönlichkeit ausgeschaltet wurde und bisher hat Al-Kaida das Charisma Osama bin Ladens noch nicht adäquat ersetzen können."
Al-Sawahiris Charisma-Defizit
Auffällig ist vor allem die weitgehende Abwesenheit von identifizierbaren Führungsfiguren an der Spitze der Organisation. Mit Aiman al-Sawahiri hatte Al-Kaida zwar schnell eine neue Nummer eins parat. Der ägyptische Arzt agierte schon seit den 1990-er Jahren als Bin Ladens Stellvertreter und galt schon vor seinem Tod als der strategische Kopf des Netzwerks. Was ihm fehlt, ist allerdings das Charisma seines getöteten Vorgängers. "Osama bin Laden hat allein durch seine Persönlichkeit sehr viele junge Männer in der arabischen Welt, in der westlichen Welt, aber auch in Südasien mitgerissen. Aiman al-Sawahiri reißt niemanden mit. Er wird respektiert, aber er wird nicht so geliebt wie Osama bin Laden", so Steinberg im DW-Gespräch.
Hinzu komme, dass sich die Kräftegleichgewichte innerhalb des Netzwerks mit dem Wechsel an der Spitze verschoben hätten. "Sawahiri gilt als Vertreter des ohnehin schon einflussreichen ägyptischen Flügels, der von anderen Flügeln, wie der Al-Kaida im Mahgreb, mit Argwohn betrachtet wird."
Daneben gibt es mit Abu Jahja al Libi eine faktische Nummer Zwei. Al Libi galt lange Zeit als religiöser Vordenker der Organisation. Er war 2002 von den Amerikanern im US-Militärgefängnis im afghanischen Bagram inhaftiert worden, entkam jedoch drei Jahre später zusammen mit anderen Häftlingen. Abgesehen von einer Internetbotschaft im Zusammenhang mit der Bewaffnung libyscher Rebellen war von ihm im letzten Jahr allerdings nur wenig zu hören.
Neue und alte Gravitationszentren
Die Sorge um die eigene Sicherheit, so vermuten Terrorexperten, könnte dazu geführt haben, dass die neue Führungsriege des Netzwerks eher unsichtbar bleiben will. Guido Steinberg verweist außerdem auf einige Führungskader der Organisation, die im Iran unter Hausarrest stehen, dort aber seit 2009 "etwas mehr Bewegungsfreiheit" hätten. "Es ist die ganz große Frage für die nächsten Monate und Jahre, inwieweit diese 'iranische Führung' der Al-Kaida eine Rolle übernehmen kann", so Steinberg.
Unterdessen haben sich neue Gravitationszentren des Dschihad herauskristallisiert. Neben Nord- und Südwasiristan, jenem schwer zu kontrollierenden pakistanischen Gebiet an der Grenze zu Afghanistan, wo immer noch viele Mitglieder der Kern-Al-Kaida vermutet werden, weist für den Terrorexperten Rolf Tophoven die Spur immer noch "in den Irak, wo wir auch Al-Kaida-Kommandos haben. Außerdem haben wir einen neuen 'Hotspot': die Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel, vor allem im Jemen." Gerade dort haben bewaffnete Islamisten die politischen Unruhen für sich genutzt und verwickeln die Sicherheitskräfte des Landes seit Monaten in heftige Kämpfe. Zeitweilig gelang es den Al-Kaida-Kämpfern, ganze Ortschaften im Süden des Jemen unter ihre Kontrolle zu bringen.
Al-Kaida-Ableger mit eigener Agenda
Für große Aufmerksamkeit sorgen seit dem Tod von Osama bin Laden andere islamistische Terrororganisationen wie Boko Haram in Nigeria oder Al-Schabab in Somalia. Die in Nigeria und der Sahelzone aktive Boko Haram gilt als radikale islamistische Sekte, deren Hauptziel es ist, den Vielvölkerstaat Nigeria mit seinen über 160 Millionen Einwohnern dem islamischem Recht, der Scharia, zu unterwerfen. Die Bewegung wird für die Ermordung mehrerer Hundert Christen in Nigeria verantwortlich gemacht.
Al-Schabab kontrolliert Teile Somalias und bekannte sich in der Vergangenheit zu mehreren schweren Bombenanschlägen auch in anderen afrikanischen Ländern. Im Februar meldete "Intelcenter", ein US-Unternehmen, das auf die Auswertung islamistischer Webseiten spezialisiert ist, den Zusammenschluss der Terrororganisationen mit dem Al Kaida-Netzwerk. Guido Steinberg relativiert jedoch: "Es gibt dort nachgewiesene Kontakte zu den Al-Kaida-Ablegern, vor allem im Jemen und in Algerien. Aber Organisationen wie Al-Schabab oder Boko Haram handeln nicht unbedingt im Sinne oder auf Anweisung von Al-Kaida." Die Organisationen hätten ihre eigene nationale Agenda, was sie allerdings nicht weniger gefährlich mache, und ihnen möglicherweise sogar größeren Zulauf verschaffe.
Einzeltäter in Europa
Ein neuer Typ des islamistisch inspirierten Terroristen ist zuletzt vor allem in Europa aufgetaucht. So bezeichnete sich der im März in Toulouse bei der Stürmung seiner Wohnung getötete Mohamed Merah selbst als Mudschahedin. Er erklärte, der Al-Kaida nahezustehen. Merah hatte zuvor an drei Tagen sieben Menschen erschossen, darunter drei Kinder an einer jüdischen Schule. Auch der im Februar in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilte Arid U., der im Februar 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten getötet hatte, wird von Terrorexperten zu diesem neuen Typus des islamistisch motivierten Einzeltäters gezählt. Während die Kern-Al-Kaida auch durch den Einsatz der internationalen Truppen in Afghanistan und die gezielte Tötung einzelner Kommandeure der Organisation durch US-Drohnen in Pakistan erheblich geschwächt sei, so Rolf Tophoven, erwachse hier in Europa ein neues Problem: "Es ist der fanatisierte, sich selbst - zum Teil durch das Internet - radikalisierende Dischhadkämpfer, der ohne Kommandoauftrag, Terrorzelle und direkte Führung zur Tat schreitet."
EU-weit schätzt man die Gruppe der hierfür in Frage kommenden Personen auf etwa 400. Die meisten von ihnen, so der EU-Terrorbeauftragte Gilles de Kerchove, sollen sich in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Belgien aufhalten.