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Gesellschaft

Brutale Historie der Indigenen-Schulen

Monisha Caroline Martins
3. Juli 2021

Viele Grausamkeiten aus den Internaten waren längst bekannt - doch die gesellschaftliche Aufarbeitung scheint jetzt erst zu beginnen. Aus British Columbia berichtet Monisha Martins.

Kanada Saskatchewan | Marieval Indian Residential School Friedhof
Ein Mann betet auf dem Friedhof der Marieval Indian Residential School in SaskatchewanBild: AFP

Warnung: Dieser Text enthält Details, die einige Leserinnen und Leser aufwühlen könnten.

Seitdem er ein kleines Kind war, kannte Dustin Ross Fiddler diese Geschichten. Sie sind nicht neu für ihn. Er hörte sie von seinen Großeltern, seinen Eltern, den Älteren in seiner Gemeinschaft, zahllosen Onkeln und Tanten. Es sind Geschichten über gestohlene Kinder, die nie wieder nach Hause zurückkehrten.

"Das war für Indigene schon immer bekannt. Aber eine große Mehrheit der Kanadier wusste nichts darüber, bis es diese grausame Entdeckung gab", sagt Fiddler, ein Ratsmitglied in der Waterhen Lake First Nation. In Kanada werden alle indigenen Völker unter dem Begriff "First Nations" zusammengefasst. In der Waterhen Lake First Nation in der zentralkanadischen Provinz Saskatchewan leben Angehörige der Volksgruppe der Cree. "Es ist traurig, dass es eine solch grausame Entdeckung braucht, damit die Leute über ihre blinden Flecken nachdenken."

Dustin Ross Fiddler geht davon aus, in den Massengräbern Verwandte zu findenBild: Elicia Munro Photography

Im Mai hatte es große Bestürzung gegeben über den Fund von 215 Kinderleichen in Kamloops im Bundesstaat British Columbia: Angehörige der Tk'emlups te Secwepemc First Nation hatten ein Schulgelände mit einem Bodenradar abgesucht. Nur Wochen danach wurde in Saskatchewan ein noch größeres Leichenfeld gefunden: Auf dem Gelände eines früheren Internats, der Marieval Indian Residential School, wurden die sterblichen Überreste von 751 Kindern ausgegraben. Beide Fälle haben eine längst überfällige Aufarbeitung dieses Kapitels der kanadischen Geschichte angestoßen.

Fiddler macht sich auf Schlimmes gefasst: "Ich weiß, dass man in diesen anonymen Gräbern auf Verwandte von mir stoßen wird. Und das ist nicht nur meine einzelne Erfahrung: Jedes Mal, wenn so eine Stätte entdeckt oder untersucht wird, fühlt man diese Unruhe und Sorge. Du weißt nicht, wie viele Verwandte dort sein werden." Erst am Mittwoch wurde ein weiterer Fund öffentlich: Die First Nation Lower Kootenay Band im südlichen British Columbia hatte 182 anonyme Gräber in Aq'am gemeldet.

Internate "waren Gefängnisse"

Solche Internatsschulen gab es in Kanada 150 Jahre lang. Mehr als 150.000 Kinder durchliefen diese Einrichtungen, bevor die letzten im Jahr 1996 geschlossen wurden. Indigene Kinder wurden aus ihren Familien gerissen, oft gewaltsam. Sie wurden in beengten, vom Staat bezahlten und von der Kirche betriebenen Einrichtungen untergebracht. Dort wurden sie häufig missbraucht und durften ihre Sprachen nicht sprechen. Ziel des Systems: "den 'Indianer' im Kind abzutöten."

Jede Flagge im Gras steht für ein getötetes Kind an der Marieval Indian Residential SchoolBild: Geoff Robins/AFP

"Man kann gar nicht von Schulen sprechen", sagt Cindy Blackstock, Professorin der McGill-Universität in Montreal und Direktorin einer Gesellschaft, die sich um Kinder und Familien der First Nations kümmert. "Das waren Gefängnisse. Ihre Intention war, diese Schülerinnen und Schüler zu assimilieren."

2008 wurde eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, die zum Ergebnis kam, in den Schulen sei "kultureller Genozid" begangen worden. Viele Kinder kehrten nie mehr nach Hause zurück: Sie starben durch Vernachlässigung, Krankheiten oder Suizid. Ihre Familien erfuhren wenig über ihre Schicksale. Manche erfuhren überhaupt nichts - ihre Kinder verschwanden einfach.

Die kanadische Regierung setzte schon 1920 die Nachweispflicht zu diesen Todesfällen aus, nachdem ein Behördenleiter sie in Kenntnis setzte, dass erschreckend viele Kinder starben. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission listete 4120 verschwundene Kinder von rund 150 Schulen. Murray Sinclair, der frühere Richter und Indigene an der Spitze der Kommission, sagte kürzlich der "New York Times", inzwischen gehe er von "weit mehr als 10.000" Fällen aus.

Kleine Solarlampen erhellen abends das GrabfeldBild: AFP

"Überlebende erzählten von Kindern, die auf einmal verschwunden waren", sagte Sinclair in einer Stellungnahme. "Manche sprachen von Kindern, die in Massengräbern verschwanden. Manche Überlebende erzählten von jungen Mädchen in den Internaten, die von Priestern geschwängert wurden. Die Neugeborenen wurden ihnen weggenommen und getötet - manchmal in Öfen geworfen, wie uns erzählt wurde."

Suche nach Antworten

Den Ruf der Kommission nach einer detaillierteren Aufarbeitung lehnte die kanadische Regierung ab. Stattdessen wird stückchenweise weiter untersucht, allen voran von den First Nations, die sich nach Antworten sehnen. Die Regierung hat versprochen, den Gemeinschaften finanziell dabei zu helfen.

"Es ist Kanadas Verantwortung, die Verletzung und das Trauma, das Sie fühlen, auszuhalten, und die Regierung wird die indigenen Gemeinschaften im ganzen Land weiter mit den Mitteln und Ressourcen unterstützen, die sie benötigen, um diese schrecklichen Missstände ans Licht zu bringen", sagte Premierminister Justin Trudeau in einer Pressemitteilung. "Während wir nicht mehr die Verstorbenen zurückbringen können, können und werden wir die Wahrheit über diese Ungerechtigkeiten erzählen und uns für immer an sie erinnern."

Premierminister Justin Trudeau, hier beim G7-Gipfel in Cornwall, verspricht Unterstützung für weitere AufklärungBild: Phil Noble/REUTERS

2008 hatte die Regierung schon einmal für das Internats-System um Entschuldigung gebeten. Cindy Blackstock und andere Angehörige der First Nations vermissen jedoch Taten. "Wir wollen Gerechtigkeit. Blumen und Gebete zu schicken, reicht nicht."

Entschuldigung von der katholischen Kirche?

60 Prozent der Schulen wurden von der römisch-katholischen Kirche geleitet, der Rest verteilte sich auf anglikanische, vereinigte und presbyterianische Kirchen. Eine Entschuldigung von Papst Franziskus lässt bislang auf sich warten, und die katholische Kirche hat immer noch nicht alle Akten und Unterlagen in Verbindung mit den Schulen öffentlich gemacht.

Für Dezember ist ein Treffen des Papsts mit Überlebenden sowie Vertretern der First Nations geplant. Die kanadische katholische Bischofskonferenz teilte dazu mit: "Papst Franziskus ist fest entschlossen, indigenen Völkern direkt zuzuhören, seine tief empfundene Nähe auszudrücken, die Auswirkungen der Kolonialisierung und die Rolle der Kirche im Internatssystem anzusprechen, in der Hoffnung, eine Antwort auf das Leiden der indigenen Völker und die anhaltenden Effekte generationenübergreifender Traumata zu geben."

Vor sechs Jahren gelobte Justin Trudeau im Namen seiner Regierung, alle 94 Handlungsempfehlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission umsetzen zu wollen. Doch bislang sind nur die wenigsten vollständig realisiert: Im Dezember 2020 veröffentlichte das Yellowhead-Institut, ein von Angehörigen der First Nations geleitetes Recherchezentrum in Toronto, einen Bericht, wonach erst acht der 94 Empfehlungen vollständig umgesetzt wurden.

Cindy Blackstock leitet die First Nations Child and Family Caring SocietyBild: Submitted/First Nations Child and Family Caring Society of Canada

Cindy Blackstock sagt, das Kapitel der Indigenenschulen sei noch nicht abgeschlossen. Auch die Systeme, die als Ersatz aufgebaut wurden, seien von systemischem Rassismus geprägt. Aus dem Zensus von 2016 ging hervor, dass Kinder aus den Bevölkerungsgruppen der First Nations, Inuit und Métis nur 7,7 Prozent der Unter-15-Jährigen in Kanada ausmachten - gleichzeitig gehörten jedoch 52,2 Prozent der Pflegekinder diesen Gruppen an. Mehr als 30 Prozent der Gefängnisinsassen in Kanada sind Indigene - obwohl diese nur fünf Prozent der Bevölkerung stellen.

Nach vorne blicken

Am 1. Juli war der kanadische Nationalfeiertag - doch in diesem Jahr haben viele Gemeinden die traditionellen Feierlichkeiten abgesagt und stattdessen dazu aufgerufen, sich an diesem Tag mit den Abgründen der Indigenenschulen und Versöhnung mit indigenen Menschen zu beschäftigen.

Für Nicht-Indigene wie Eva Goldthorp waren die Nachrichten aus Cowessess und Kamloops ein Weckruf. "Erst nachdem über Kamloops berichtet wurde, habe ich mich damit beschäftigt und festgestellt, wie wenig ich darüber wusste", sagt Goldthorp, die mit einem indigenen Mann verheiratet ist. "Ich hatte wie viele Kanadier die Wahrnehmung, die Ereignisse in den Indigenenschulen seien lange her. Mir war nicht klar, wie spät das noch passiert ist. Das war immer noch im Gange, während ich auf der Welt war."

Eva Goldthorp hat Papierherzen gebastelt - und so das Thema im Ort auf die Agenda gesetztBild: Monisha Martins/DW

Um ihre Solidarität auszudrücken, hat Goldthorp ein orangefarbenes Papierherz mit ausgestanzten Federn in ein Fenster ihres Hauses in Chilliwack, British Columbia, gehängt. Ihren Nachbarn gab sie auch solche Herzen, und bald erhielt sie weitere Anfragen aus der Nachbarschaft. Ihre Herzen sorgen für Gesprächsstoff und bringen Menschen dazu, Kanadas Kolonialerbe zu hinterfragen. "Es sollte mehr Aufklärung darüber geben, was genau passiert ist. Solange der größte Teil der Gesellschaft nicht wirklich versteht, was passierte, interessieren sich die Leute nicht genug dafür, um Wandel einzufordern", sagt Goldthorp.

In einer virtuellen Pressekonferenz zur Entdeckung der Massengräber in Saskatchewan forderte Chief Cadmus Delorme von der Cowessess First Nation die Kanadier genau dazu auf. "Wir wünschen uns nur von euch Zuhörenden, dass ihr uns beisteht, während wir heilen und stärker werden", sagte Delorme. "Wir müssen unsere Ignoranz und versehentlichen Rassismus niederlegen, die sich durch das Nicht-Ansprechen der Wahrheit darüber ausdrückt, was dieses Land indigenen Menschen angetan hat. Wir bitten nicht um Mitleid, sondern um Verständnis. Wir brauchen Zeit um zu heilen, und dieses Land muss uns beistehen."

Adaptiert aus dem Englischen von David Ehl.