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"Die Deiche sind sicher - im Moment"

Dirk Kaufmann
7. November 2017

"Gott schuf das Meer, der Friese die Küste", sagt man in Ostfriesland. Doch der Küstenschutz ist eine komplizierte Sache - und er ist teuer. Aber für die Menschen, die am Meer leben, ist er schlicht unverzichtbar.

Sturmflut 1962 überschwemmt Norddeutschland
Bild: picture-alliance/dpa

An einem 1. November, dem katholischen Feiertag "Allerheiligen", hat es bislang fünf Sturmfluten gegeben, die heute noch im Gedächtnis sind. Die fünfte - und jüngste - Allerheiligenflut kam 2006 über den Dollart die Ems hinaufgeschossen. Diese Flut an der nordwestdeutschen Küste lief nicht nur außergewöhnlich hoch auf, sie kam vor allem sehr schnell. Dass niemand ertrank, war nur den umfangeichen Küstenschutzmaßnahmen zu verdanken.

Oberdeichrichter Meint Hensmann kann sich noch heute genau erinnern: "Wir hatten tagsüber keinen Wind", erzählt er. Doch eine halbe Stunde vor Mitternacht, er war im Auto auf dem Heimweg, kam er gegen den plötzlich einsetzenden Wind kaum noch an: "Ich musste stehenbleiben und habe mir gedacht: 'Das gibt's doch nicht. Sturm ohne Ende!'" Doch in der Ems war das Wasser verhältnismäßig ruhig und nicht höher als gewöhnlich aufgelaufen. Beruhigt legte sich Meint Hensmann schlafen.

Morgens um fünf riss ein Anruf den Oberdeichrichter aus dem Schlaf: Er müsse zum Deich, es gäbe eine ganz schwere Sturmflut: "Ich bin sofort hingefahren und wie ich darein geguckt habe, hab ich gedacht: Und das in nur einer Nacht! Das Wasser war so extrem reingerückt worden, dass wir einen bedeutend höheren Wasserstand als 1962 hatten. Bedeutend höher!"

Ohne Deiche kein menschliches Leben an der Küste

Im Februar 1962 hatte eine Sturmflut die deutsche Nordseeküste heimgesucht - vor allem in Hamburg richtete diese "zweite Julianenflut" große Schäden an. Nach zahlreichen Deichbrüchen hatten ganze Stadtteile unter Wasser gestanden - 340 Menschen starben. Auch weiter im Westen, im Rheiderland, war der Deich an einer Stelle gebrochen. Nur ein Zufall hatte das niedrig gelegene Land vor einer Überschwemmung bewahrt.

Das Rheiderland im Nordwesten Deutschlands

Das Rheiderland liegt zwischen dem linken Ufer der Ems und der Grenze zu den Niederlanden. Im Norden grenzt es an den Dollart, eine Meeresbucht der Nordsee zwischen Deutschland und den Niederlanden, und reicht bis auf die Höhe von Papenburg nach Süden. Hier ist die Rheider Deichacht für Bau und Erhalt der Deiche auf einer Länge von 48,2 Kilometer verantwortlich.

Der Geschäftsführer der Rheider Deichacht, Stefan Michels, weiß um den Wert seiner Arbeit. Gäbe es die Deiche nicht, sagt er, gäbe es das Rheiderland, wie wir es heute kennen, nicht: "Zweimal am Tag wäre das Land überschwemmt." Meint Hensmann ergänzt: "Da könnte man nicht mehr wohnen."

Hauptsache, das Wasser bleibt "draußen"

Der Grund: An der Küste im deutschen Nordwesten beträgt der Tidenhub, also der Unterschied im Wasserstand bei Niedrigwassser und bei Hochwasser, ungefähr dreieinhalb Meter. Die für den Deichbau gültige Bemessungsgröße ist das Normalnull (NN) - das mittlere Tidenwasser, der Wasserstand genau zwischen Niedrig- und Hochwasser. Und ziemlich genau auf dieser Höhe liegt auch das Rheiderland. Zweimal täglich liegt der Wasserstand der Nordsee rund 170 Zentimeter darüber, zweimal um ebenso viel darunter. Mal etwas mehr, mal etwas weniger, abhängig vom Stand des Mondes und der Sonne.

Das Deichvorland (die Seeseite des Deiches) bei Hochwasser. So sähe es, gäbe es keine Deiche, im ganzen Rheiderland aus - und zwar bei mittlerem Wasserstand. Zweimal am Tag, bei Hochwasser, wäre auch das Schild nicht mehr zu sehen.Bild: DW/D. Kaufmann

Wenige Kilometer bevor die Ems in den Dollart fließt, schließt heute ein mächtiger Bau den Fluss ab: Das Emssperrwerk zwischen den Dörfern Nendorp im Rheiderland und Gandersum am anderen Ufer der Ems.

Die Planungen für den Bau begannen im März 1997, fünf Jahre später war es fertig. Sein Zweck: bei hoch auflaufenden Sturmfluten den Fluss abzuriegeln, "das Wasser draußen zu halten", wie es Reinhard Backer sagt. Er ist Dezernent beim Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz(NLWKN) im ostfriesischen Aurich.

Ein Sperrwerk kostet viel Geld

"Wenn Sturmtiden vorhergesagt sind, die mehr als zwei Meter über dem mittleren Tidehochwasser auflaufen", erklärt Backer, "schließen wir die Tore. Und wenn der Außenwasserstand wieder fällt und genau so hoch ist wie der Binnenwasserstand, öffnen wir die Tore wieder."

Seine erste große Bewährungsprobe bestand das Sperrwerk, so Backer, im November 2006: "Viele erinnern sich noch an die fünfte Allerheiligenflut. Diese Sturmflut war sehr heftig. Sie war etwa 90 Zentimeter unter unserem maximal angesetzten Wasserstand. Diese Sturmflut war ein hundertjähriges Ereignis."

Das Emssperrwerk zwischen Gandersum und Nendorp. Bei einer Sturmflut werden die Tore heruntergelassen.Bild: DW/D. Kaufmann

Die Kosten für das Emssperrwerk kann Reinhard Backer genau beziffern: "Das Bauwerk hat 223,6 Millionen Euro gekostet." Und im Unterhalt sei es günstiger als gedacht, rechnet er vor: "Der Unterhalt ist etwa mit 1,5 bis zwei Millionen Euro pro Jahr festgelegt worden. Da sind wir noch lange nicht. Wir haben zur Zeit einen Aufwands-und Investitionshaushalt von etwa 700.000 bis 900.000 Euro pro Jahr."

Aber Deiche sind teurer

Bei Deichbau und- unterhalt kann man nicht so präzise kalkulieren. Hinter dem Sperrwerk, sozusagen auf seiner Binnenseite, sind die Deiche niedriger, weil ja die Sperrtore die höchsten Wasserstände aussperren. Gäbe es diese Sperre nicht, müssten die Deiche auf einer Länger von mehr als 30 Kilometern erhöht werden.

Denn die Ems ist dutzende Kilometer ins Land hinein, bis zur ersten Schleuse hinter Papenburg, ein Tidengewässer. Das heißt, dass auch dort Ebbe und Flut spür- und messbar sind. Zweimal am Tag drückt Meerwasser in den Fluss und lässt den Wasserstand steigen, zweimal fließt es mit dem Flusswasser wieder ins Meer hinaus. Deshalb müssen auch die Deiche so weit ins Land hinein stehen.

Stefan Michels beschreibt, was die Kalkulation für den Deichbau so schwierig macht, dass es nicht möglich sei, zu sagen: So und so viel Kilometer Deich kosten so und so viel Geld: "Alle Deiche unterhalb des Sperrwerks hätten erhöht werden müssen - mit all den Problemen, die daran hängen. Zum Beispiel, wenn landwirtschaftlich genutzte Fläche verloren geht. Nicht daran zu denken, wenn da auch noch Wohnbebauung im Weg gestanden hätte! Es wäre extrem schwierig geworden, das umzusetzen."

Der Emsdeich im Rheiderland: Mehr als 40 Kilometer ist er lang und er beansprucht ein Grundfläche von 25.400 Hektar.Bild: DW/D. Kaufmann

"Was in 100 Jahren passiert, wissen wir heute noch nicht"

Welche Wasserstände die Zukunft bringen wird, kann niemand seriös vorhersagen. Der Klimawandel, den niemand, der an der Küste lebt, bestreitet, findet bereits statt und dass der Meeresspiegel weiter ansteigen wird, davon geht hier ebenfalls jeder aus.

Der Geschäftsführer der Rheider Deichacht kennt die aktuellen Prognosen: "Die Niederländer rechnen mit einem Meter in den nächsten hundert Jahren, das Land Niedersachsen rechnet mit einem halben Meter." Doch ist Michels zuversichtlich, auf der richtigen, der sicheren Seite zu sein: "Ich verlasse mich auf die 'Forschungsstelle Küste'. Die sagt, wie hoch die Deiche sein müssen."

Rheiderlands Oberdeichrichter Meint Hensmann hält einen Anstieg des Meeresspiegels von 50 Zentimetern in den nächsten Jahrzehnten ebenfalls für realistisch. "Der Deich am Dollart hat im Moment eine Höhe von über neun Meter bis zum Sperrwerk", sagt Hensmann. "Da ist die Klimaveränderung für die nächsten 50 Jahre eingerechnet: Das sind 50 Zentimeter."

Daher ist Hensman auch sicher, dass "im Moment die Deiche sicher sind". Dann aber fügt er, ebenso mahnend wie nachdenklich, hinzu: "Was in 50 oder in 100 Jahren passiert, wissen wir heute noch gar nicht." Eines aber weiß jeder Küstenbewohner: Küstenschutz ist eine Ewigkeitsaufgabe. "Gott schuf das Meer, der Friese die Küste." Und so teuer es auch werden wird, er muss die Küste schützen vor dem Meer.

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