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Die deutsche Wirtschaft im Wahljahr

22. September 2017

"It's the economy, stupid!" Mit diesem Slogan wurde Bill Clinton vor 25 Jahren US-Präsident. Viele Wähler machen ihre Entscheidung offenbar von der Wirtschaftslage abhängig. Wie steht Deutschland wirtschaftlich da?

Warnschild mit der Aufschrift Brückenschäden
Bild: picture-alliance/dpa/F. von Erichsen

Auf den ersten Blick sieht alles gut aus: Die deutsche Wirtschaft wächst solide (+1,9 Prozent in 2016), die Arbeitslosigkeit ist dem tiefsten Stand seit Jahrzehnten, die Steuereinahmen sprudeln wie nie, und der Finanzminister kommt ohne neue Schulden aus.

Auch die Firmen sind optimistisch, und ihre Produkte - von Autos über Maschinen bis zu Pharmaerzeugnissen - verkaufen sich im Ausland hervorragend. Die Wirtschaft läuft so rund, dass einige schon von Steuersenkungen träumen und andere eine Überhitzung befürchten.

Zerfallende Infrastruktur

Gleichzeitig aber gibt es ein ernsthaftes Problem: Im Land zerbröseln Straßen, Brücken und Schulen. Dies sei eine "zentrale Schwäche in Deutschland", heißt es im Abschlussbericht einer Expertenkommission, die den Zustand der öffentlichen Infrastruktur im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums seit 2014 untersucht hat.

Kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen? Dafür pro Tag 1900 Staus, so der ADAC.Bild: Getty Images/S. Gallup

Mehr als 1900 Staus gibt es jeden Tag auf deutschen Straßen, hat der Automobilverein ADAC gezählt. Bei der Bahn vergeht kein Tag ohne Verspätungen und Zugausfälle. Für jedes zehnte Kleinkind finden Eltern - trotz Rechtsanspruchs - keinen Platz in einer Kindertagesstätte. Und 1041 öffentliche Schwimmbäder wurden entweder geschlossen oder sind akut von der Schließung bedroht.

"Öffentliche Ausgaben wurden gekürzt, viele öffentliche Dienstleistungen sind dem Rotstift zum Opfer gefallen oder wurden privatisiert, Gebühren wurden angehoben und Nutzerentgelte eingeführt", klagen Gewerkschaftsvertreter im Bericht der Expertenkommission.

Zu wenig Geld für Bildung?

Deutschland investiert auch deutlich weniger in Bildung als andere Länder der OECD, einer Gruppe von 35 relativ wohlhabenden Staaten. Die geben im Schnitt 5,2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Bildung aus, Deutschland nur 4,3 Prozent.

Noch deutlicher sind die Unterschiede bei der digitalen Infrastruktur, und hier vor allem beim Zugang zu schnellen Internetverbindungen. Glasfaserkabel, die bis zu zehnmal schneller sind als herkömmliche DSL-Leitungen, machen im OECD-Durchschnitt 20 Prozent aller Breitbandverbindungen aus. Japan und Südkorea erreichen hier Spitzenwerte von rund 75 Prozent, auch die skandinavischen und baltischen Länder liegen deutlich über dem Durchschnitt. Deutschland, das sich die Digitalisierung der Industrie auf die Fahnen geschrieben hat ("Industrie 4.0"),  liegt weit abgeschlagen bei gerade mal 1,6 Prozent.

Bei internationalen Untersuchungen zur Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftsfreundlichkeit ist Deutschland zuletzt zurückgefallen und schafft es nicht unter die Top 10.

Aber natürlich wählen Bürger nicht nur aufgrund volkswirtschaftlicher Rahmendaten. Mindestens ebenso wichtig ist ihre persönliche Situation.

Zwar können sich viele über höhere Tariflöhne freuen, die in den vergangenen drei Jahren um rund zwei Prozent gestiegen sind. Doch vorausgegangen waren lange Jahre der Lohnzurückhaltung. Zwischen 2000 und 2011 hatten die Deutschen real, also nach Abzug der Inflation, sogar 1,8 Prozent weniger in der Tasche, während sich Dänen, Briten, US-Amerikaner oder Franzosen über Zuwächse zwischen zehn und 16 Prozent freuen konnten.

Schrumpfende Mittelschicht

Vor allem die deutsche Mittelschicht macht sich Sorgen, denn sie schrumpft seit 30 Jahren. "Die 'Einkommensmitte' wird gleichsam zusammengepresst", schreiben die Forscher des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen in einem Bericht. Gleichzeitig steigt die Zahl derer, die entweder deutlich weniger oder deutlich mehr als der Durchschnitt verdient. "Insgesamt signalisieren diese Befunde eine wachsende Ungleichverteilung der Einkommen", so die Forscher.

Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren in der Europäischen Union - 23 Prozent aller Lohnbezieher arbeiten für wenig Geld. In Ländern wie Italien, Frankreich, Dänemark, Finnland sind es weniger als zehn, in Belgien und Schweden sogar weniger als fünf Prozent.

Und schließlich erzählt auch die Arbeitslosenstatistik nur einen Teil der Wahrheit. Offiziell waren im Mai 2017 weniger als 2,5 Million Menschen ohne Arbeit, das war der niedrigste Stand seit 1991. Doch insgesamt sind 6,2 Millionen Menschen auf staatliche Unterstützung angewiesen. Dazu gehören jene, die nicht genug zum Leben verdienen, sowie die Kinder in diesen Haushalten. Die Zahl der Empfänger von Sozialleistungen ist seit der großen Sozialreform ab 2005 ("Agenda 2010") nicht annähernd so stark gesunken wie die Zahl der offiziell Arbeitslosen.

Wirtschaftlich gibt es in diesem Wahljahr viele Fragen: Sollte die Regierung jetzt mehr in Infrastruktur und Bildung investieren? Sollte sie damit warten bis zur nächsten Rezession? Sollte sie die Steuern senken, damit die Bürger mehr Geld in der Tasche haben? Und wie steht es um die "soziale Gerechtigkeit", die die SPD als großes Wahlkampfthema ausgemacht hat?

All diese Verteilungsfragen bilden den Hintergrund, vor dem über andere Belastungen der öffentlichen Hand gestritten wird: Von den Ausgaben für Flüchtlinge und Migranten über die Kosten der Energiewende bis zu Eurobonds und einem möglichen Schuldenschnitt für Griechenland.

Andreas Becker Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Geldpolitik, Globalisierung und Verteilungsfragen.
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