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KriminalitätNigeria

Die Entführung von Chibok: Zehn Jahre und kein Ende

Kate Hairsine
14. April 2024

Zehn Jahre ist es her, dass Islamisten 276 Schülerinnen aus einem nigerianischen Internat entführten. Der Überfall und seine Folgen wirken bis heute nach.

Pressefoto zeigt mehrere Dutzend festlich in afrikanischen Stoffen gekleidete Frauen
Rund drei Jahre nach der Entführung von Chibok kamen 82 junge Frauen freiBild: Sunday Aghaeze/AFP

In der Nacht des 14. April 2014 stürmen Dutzende Kämpfer der militanten islamistischen Gruppe Boko Haram ein Schulwohnheim für Mädchen in der abgelegenen Stadt Chibok, einer kleinen christlichen Enklave im überwiegend muslimischen Nordosten Nigerias.

Die 276 Schülerinnen, die meisten im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, werden mit vorgehaltener Waffe durch den Wald zu wartenden Lastwagen getrieben, nachdem die Kämpfer die Schulgebäude in Brand gesetzt haben. Es ist ein Überfall, der in die Geschichte eingehen wird - auch, weil viele der Mädchen für Jahre verschollen bleiben.

Erst nach und nach wurden Details der Entführung bekannt. Die Berichte von Rückkehrenden haben daran einen entscheidenden Anteil. 57 Mädchen gelang in den Stunden nach der Entführung die Flucht. Einige versteckten sich im Gebüsch, andere sprangen von den Fahrzeugen, als sie durch die dunkle Nacht des Sambisa-Waldes fuhren, der zum Versteck von Boko Haram geworden war.

Eine derjenigen, denen die Flucht gelang, erzählte Human Rights Watch, dass ein Milizionär die Schülerinnen im Lastwagen fragte: "Nach welcher Art von Wissen sucht ihr hier [in der Schule]? Da ihr hier nach westlicher Bildung sucht, sind wir hier, um sie zu bekämpfen und euch den Weg des Islam zu lehren.

Warum war es so einfach, die Schülerinnen zu entführen?

Nach Angriffen von Boko Haram waren zahlreiche Schulen in der Region bereits im März geschlossen worden, darunter die Sekundarschule von Chibok. Die Terrorgruppe hatte 2009 eine bewaffnete Rebellion gegen die nigerianische Regierung begonnen, um einen islamischen Staat zu gründen. Sie war bekannt für ihre feindselige Haltung gegenüber dem westlichen Bildungssystem.

Doch die von der Regierung betriebene Schule in Chibok wurde extra geöffnet, damit die Schülerinnen ihre Abschlussprüfungen ablegen konnten. Viele Mädchen reisten aus umliegenden Dörfern an, deren Schulen geschlossen blieben.

Obwohl im Bundesstaat Borno der Ausnahmezustand galt, waren keine Soldaten an der Schule stationiert, und die beiden Wächter, die das Gelände bewachten, flohen, als sich die Kämpfer näherten.

Eine andere Gruppe von Boko-Haram-Kämpfern schoss auf die 17 im Stadtzentrum stationierten Sicherheitskräfte, die vor der Übermacht in den nahen Wald flohen.

Laut Untersuchungen, die unter anderem von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International angestellt wurden, rollte der Boko-Haram-Konvoi zuvor bereits durch Nachbardörfer. Deren Bewohner hätten daraufhin - mehrere Stunden vor dem Angriff - auch die Militärbasis in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno, angerufen. Doch das Militär war offenbar nicht in der Lage, kurzfristig Truppen für die 125 Kilometer lange Fahrt nach Chibok zu mobilisieren. So konnte Boko Haram die schutzlosen Mädchen entführen.

Was geschah mit den Schülerinnen?

Kurz nach den Entführungen drohte der Anführer der Gruppe, Abubakar Shekau, damit, die Mädchen als Sklavinnen zu verkaufen. Tatsächlich zwangen die Entführer viele der Mädchen, zum Islam zu konvertieren, Boko-Haram-Kämpfer zu heiraten und ihnen Kinder zu gebären. Oft wurden sie mehrfach verheiratet, da viele der Männer bei Kämpfen getötet wurden.

In den folgenden Jahren gab es kaum Lebenszeichen von den entführten Schülerinnen, allein zwei junge Frauen wurden zwischen Mai und September 2016 gefunden. Doch durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes wurden schließlich zahlreiche Mädchen freigelassen - laut Berichten geschah dies im Rahmen eines Gefangenenaustauschs.

Zainabu Mala hält 2019 ein Bild ihrer entführten Tochter KabuBild: Audu Ali Marte/AFP

Mehr als 100 Mädchen sind seitdem freigelassen worden. Diejenigen, die zurückgekehrt sind, berichteten von Schlägen, ständigem Hunger und Schlimmerem. Sie wurden meist in einfachen Hütten im Sambisa-Wald gefangen gehalten.

"An dem Ort, wo ich gefangen gehalten wurde, war es sehr schlimm. Das hatten wir nicht erwartet. Wir haben dort gelitten. Wir waren hungrig", sagte die Chibok-Überlebende Mary Dauda gegenüber Amnesty International. 82 der jungen Frauen werden bis heute vermisst.

Welche Rolle hat #BringBackOurGirls gespielt?

Die Regierung des damaligen Präsidenten Goodluck Jonathan gab die Entführungen nur zögerlich zu und unternahm lediglich halbherzige Versuche, die Mädchen zu retten. Doch dann startete eine Gruppe von Nigerianern die Twitter-Kampagne #BringBackOurGirls. Sie wurde von Prominenten wie der Hollywood-Schauspielerin Angelina Jolie und der amerikanischen First Lady Michelle Obama geteilt und löste in den sozialen Medien eine weltweite Empörung aus.

Bis heute bleiben Dutzende der Chibok-Schülerinnen vermisst - und das Mittel der Entführung kommt weiter zum EinsatzBild: Olukayode Jaiyeola/NurPhoto/picture alliance

Infolge der Social-Media-Kampagne kam es in Nigeria und anderswo auch zu tatsächlichen Demonstrationen. Daraufhin versprach Präsident Jonathan, die Schülerinnen zu finden, und die Polizei setzte eine Belohnung von 300.000 Dollar aus, damals umgerechnet rund 220.000 Euro. Der damalige US-Präsident Barack Obama entsandte sogar ein Team von Beratern, um das nigerianische Militär bei der Suche zu unterstützen, obwohl die nigerianischen Behörden zögerten, internationale Hilfe anzunehmen.

Warum wirken die Chibok-Entführungen noch heute nach?

Boko Haram hat im Jahr vor dem Überfall in Chibok etwa 50 Schulen angegriffen und Dutzende von Kindern entführt. Doch mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass die Entführung der Chibok-Mädchen auch zehn Jahre später noch große Aufmerksamkeit erfährt.

Chibok war der Beginn groß angelegter Entführungen in Nigeria, wie sie auch heute noch stattfinden - auch wenn heute eine größere Zahl von Akteuren an Entführungen beteiligt ist.

Anfang März dieses Jahres wurden fast 300 Kinder aus einer Schule in Kigura im Nordwesten Nigerias entführt. Viele von ihnen kamen später frei. Wenige Tage zuvor waren im Bundesstaat Borno bereits 200 Menschen entführt worden - größtenteils Frauen und Kinder.

Dazu kommt der mangelnde Einsatz der Behörden, die Schülerinnen von Chibok zu befreien. Damit wurde der Fall zu einem berüchtigten Beispiel für das Versagen der nigerianischen Regierung beim Schutz der Menschen - damals wie heute.

Vor allem Schülerinnen und Schüler sind die Leidtragenden. Nach Angaben der Kinderhilfsorganisation Save the Children wurden in Nigeria von April 2014 bis Mitte 2023 mehr als 1680 Kinder entführt.

Allein im Bundesstaat Katsina blieben im Jahr 2023 fast 100 Schulen wegen der unsicheren Lage geschlossen. Und die Angst vor Entführungen ist ein wichtiger Grund für Nigerias Kinder, der Schule fernzubleiben.

Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner.

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