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PolitikEuropa

Die EU hält zwölf Milliarden für Ungarn zurück

13. Dezember 2022

Der Rechtsstaat in Ungarn ist wegen Korruption in Gefahr, befindet die EU und kürzt dem Mitgliedsland erstmals Gelder. Eine Niederlage für Budapest und Viktor Orban, die weltweite Folgen hat. Bernd Riegert aus Brüssel.

Brüssel- Victor Orban und Ursula von der Leyen
EU-Kommissarin von der Leyen (li.) hält Ungarns Premier Orban unter Druck (Archiv)Bild: picture-alliance/AA/D. Aydemir

EU verhängt drastische Strafen gegen Ungarn

02:04

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Der Europaabgeordnete Daniel Freund (Bündnis 90/Grüne) nannte die Entscheidung der EU-Mitgliedsstaaten, Fördermittel für Ungarn aus dem EU-Haushalt bis auf Weiteres einzufrieren, "historisch". Mit dem Begriff sollte man zwar sparsam umgehen, aber in der Tat ist es das erste Mal in der 65-jährigen Geschichte der Union, dass einem Mitglied Mittel vorenthalten werden. "Autokraten in der EU werden jetzt die Gelder gekürzt", freute sich der Abgeordnete Freund in Straßburg, der sich schon lange mit Verstößen gegen die rechtsstaatliche Ordnung - besonders in Ungarn - beschäftigt.

Weniger als ein Drittel eingefroren

Die Botschafter der EU-Staaten haben in einer nächtlichen Sitzung beschlossen, 6,3 Milliarden Euro der geplanten 22 Milliarden aus dem Kohäsionsfonds zur Angleichung der Lebensverhältnisse in den Jahren 2023 bis 2027 zurückzuhalten. Die EU-Kommission hatte eigentlich eine Summe von 7,5 Milliarden zurückhalten wollen, was etwa einem Drittel der bislang eingeplanten Auszahlungen entspricht.

Zwei Drittel sind also von dem Verfahren nicht berührt. Es ist daher nicht so, dass jetzt alle Projekte mit EU-Förderung in Ungarn eingefroren werden müssen. Die Botschafter ermäßigten die von der Kommission vorgeschlagene Summe, weil Ungarn damit begonnen hat, einige Forderungen der EU-Kommission zu erfüllen.

Weniger Forint: EU-Mittel sollen gekürzt werden. Keine gute Nachrichten für die ungarische WirtschaftBild: picture-alliance/dpa

Vor neun Monaten hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Prozedur "Rechtsstaatsmechanismus" gestartet. Ungarn hatte nach den Regularien bis zum Jahresende Zeit, die Auflagen zu erfüllen, um rechtsstaatlich zu garantieren, dass die Gelder nicht durch Korruption abgezweigt werden. Das ist nicht ausreichend geschehen, deshalb jetzt der Beschluss der EU-Staaten.

"Der EU-Haushalt als Ganzes ist durch fehlende rechtstaatliche Kontrollen in Ungarn in Gefahr", warnte der EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn im September. Diese Verknüpfung ist wichtig. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hatte auf Antrag Ungarns und Polens, die Regeln für das Verfahren ganz klar so definiert.

Große Mehrheit gegen Ungarn

Für einige überraschend fiel das Votum gegen Ungarn mit sehr großer Mehrheit. Nach Angaben des tschechischen Ratsvorsitzes haben selbst andere rechtsnationale Regierungen etwa in Polen oder Italien nicht für ungarische Interessen gestimmt. Der Beschluss der Botschafter muss jetzt noch rechtlich von den Regierungen der Mitgliedsstaaten bestätigt werden. Das könnte bis zum EU-Gipfeltreffen an diesem Donnerstag passieren. Bei dem Treffen könnte der rauflustige ungarische Premier Viktor Orban die Strafe für sein Land noch einmal zum Thema machen.

Ebenfalls überraschend hat der ungarische Botschafter bei der EU erklärt, dass sein Land die Blockade von 18 Milliarden Euro Haushaltshilfe, für die vom russischen Krieg erschütterte Ukraine nicht mehr aufrecht erhält. Auch der Finanzierung von mehr Waffen für die Ukraine aus einem Topf mit einem Volumen von 5,5 Milliarden Euro hat Ungarn nach anfänglichem Zögern nun zugestimmt.

Weltweite Auswirkung: Die Mindeststeuer kann kommen

Außerdem zieht Ungarn sein Veto gegen die Einführung einer globalen Mindeststeuer zurück. Damit kann nun ein weltweit gewünschtes neues Steuersystem geschaffen werden. Mit der Mindeststeuer soll Steuerflucht verhindert werden und eine gerechte Besteuerung von internationalen Konzernen erreicht werden.

Die G20-Staaten hatten der Mindeststeuer von 15 Prozent zugestimmt, nur die Europäische Union war wegen der ungarischen Weigerung über ein Jahr nicht handlungsfähig. Beobachter vermuten, dass Ungarn mit der Aufhebung seiner Blockaden den Nachlass von 1,2 Milliarden Euro bei den Strafmaßnahmen erwirkt hat.

Corona-Fonds noch nicht ausgezahlt

Die Auszahlung von weiteren 5,8 Milliarden Euro aus dem "Corona-Aufbaufonds" der EU für Ungarn werden ebenfalls zurückgehalten. Zwar haben die EU-Mitglieder bestätigt, dass der Regierung von Viktor Orban diese Summe aus dem 750 Milliarden schweren Topf zusteht, aber sie haben sie mit über 20 Bedingungen verknüpft. Diese ähneln den Forderungen nach Korruptionsbekämpfung, transparenter Auftragsvergabe und Kontrolle der Mittelverwendung, die auch im ersten Verfahren nach dem "Rechtsstaatsmechanismus" erhoben werden.

Sollte das ungarische Parlament entsprechende Gesetze in der Zukunft verabschieden und eine praktische Umsetzung nachgewiesen werden, kann die EU die Gelder jederzeit freigeben. Insgesamt geht es also um zwölf Milliarden Euro aus beiden Verfahren.

Geht keinem Streit mit EU-Kollegen auf Gipfeltreffen aus dem Weg: Viktor Orban seit 2010 wieder Premier in UngarnBild: Nicolas Landemard/Le Pictorium/IMAGO

Schlägt Viktor Orban zurück?

Die Zugeständnisse, die Viktor Orban bis hierhin gemacht hat, zeigten, wie verzweifelt er im Moment sei, meint die ungarische Oppositionspolitikerin Zsuzsanna Szelenyi in einem Interview mit der Denkfabrik "European Council on Foreign Affairs" (ECFR): "Er braucht das Geld wirklich. Die ungarische Wirtschaft ist in schlechter Verfassung." Zsuzsanna Szelenyi warnt, dass Viktor Orban seinem politischen Naturell entsprechend sicherlich zurückschlagen werde. "Unter Druck wird er meistens noch radikaler."

Die ungarische Regierung fährt schon jetzt öffentliche Kampagnen gegen die EU-Kommission und die Europäische Union. Zurzeit läuft eine Befragung der Bevölkerung, die darauf abzielt, ein ungarisches Veto gegen die Russland-Sanktionen der EU zu rechtfertigen. Bei Sanktionen, in der Außenpolitik, bei Beitrittsverfahren und bei Haushaltsfragen ist Einstimmigkeit in der EU erforderlich. Ungarn hätte also noch viele Möglichkeiten, EU-Entscheidungen zu blockieren, um die Freigabe von Finanzmitteln zu erpressen.

Berühmt berüchtigt für Anti-EU-Kampagnen: Orbans Plakate gegen EU-Kommissionschef Juncker im Wahlkampf 2019Bild: picture-alliance/dpa/P. Gorondi

Im Moment habe aber die EU Oberwasser, meint der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, der den Zustand des Rechtsstaats in Ungarn schon lange kritisiert. "Die EU kann, wenn sie will", sagte Asselborn im Deutschlandfunk. "Wir haben Ungarn gesagt, dass es nicht mehr geht, die Rechtsstaatlichkeit zu ignorieren. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Orban hat den Kampf gegen die Europäische Union entschieden verloren."

Der EU-Kommissar für den Haushalt, Johannes Hahn, der das Verfahren gegen Ungarn steuert, hatte schon im September gesagt, das offensichtlich nur finanzieller Druck Wirkung zeige. "Das ist eigentlich unglücklich, denn es ist ja unsere Absicht, die Verhältnisse in Ungarn besser zu machen und nicht zu strafen." Sollte Ungarn seinen Rechtsstaat in nächster Zeit nicht renovieren, könnten die Mittelkürzungen auch noch verschärft werden.

Justizia ist in Polen im Visier der Regierung: Noch kein Fall für MittelkürzungenBild: Christoph Hardt/picture-alliance/Geisler-Fotopress

Und was ist mit Polen?

Hat der "Rechtsstaatsmechanismus" wie er bei Ungarn angewendet wurde, jetzt Signalwirkung für andere Staaten, zum Beispiel Polen? Im Prinzip ja, meint dazu EU-Kommissar Johannes Hahn. Es müsse aber immer einen klaren Zusammenhang zwischen dem EU-Haushalt und den rechtsstaatlichen Problemen geben, so wie der Europäische Gerichtshof das klargestellt habe. Das traf bei Ungarn wegen der Korruptionsgefahr zu. In Polen, das wegen der mangelnden Unabhängigkeit seiner Gerichte in der Kritik steht, trifft das eher nicht zu, so der Haushaltskommissar.

Die EU verfügt noch über andere Instrumente, um Mitgliedsstaaten wieder auf rechtsstaatliche Linie zu bringen. Gegen Polen und Ungarn laufen nach wie vor Disziplinarverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge, die aber nur langsam vorankommen. Gegen Polen laufen etliche Verfahren wegen Vertragsverletzung. Polen hat mehrere Verfahren in Sachen Justizreform vor dem Europäischen Gerichtshof verloren, ignoriert die Urteile aber teilweise.

Deshalb zahlt Polen seit September 2021 jeden Tag eine Strafe von einer Million Euro - zumindest theoretisch. Praktisch weigert sich die polnische Regierung das Geld zu überweisen. Die EU-Kommission könnte dazu übergehen, die Millionenbeträge von Fördermitteln abzuziehen, die Polen aus dem EU-Haushalt zustehen.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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