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Glaube

Die ganze Gefühlspalette

4. März 2023

Wir stehen unter Dampf, sind nah am Wasser gebaut oder würden gerne im Boden versinken. Wie gerne schieben wir diese Gefühle beiseite. Aber Gott liebt auch seine zornigen Schäfchen. Eine Suche nach der Leichtigkeit.

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Bild: Cavan Images/IMAGO

Manchmal renne ich davon. Ich spüre, da ist was, aber ich mag nicht. Ich will nicht hinfühlen, will es nicht sehen oder wahrnehmen. Ich will nicht weinen oder wütend sein. Also laufe ich. Ich wälze mich in Arbeit, putze ohne Unterlass, wasche, schrubbe und beriesle mich dabei. Der Fernseher spricht mir in den Kopf, das Hörspiel nimmt alle Gedanken mit oder die Freundin am Telefon quasselt mir die Ohren voll.

Natürlich ist das nicht der richtige Weg. So wächst man nicht an den Herausforderungen. Ich müsste mich setzen. Ruhig werden. Hinhören. Ich sollte das Gefühl zulassen, es wahrnehmen und erkennen, als das, was es ist. Aber manchmal, da geht das nicht. Da ist das Gefühl wie eine Welle. Ich drücke es herunter, aus Angst davon verschluckt zu werden.

Neulich bin ich mit meiner kleinen Tochter beim Einkaufen. Schon die ganze Zeit nörgelt sie. Die Socke rutscht im Schuh, die Hausaufgaben sind zu viel, die Sonne habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr geschienen. So traben wir zum Supermarkt. Das Kind redet sich richtig in Rage. Sie sieht rot und fuchtelt mit ihren kleinen Händen wild in der Luft herum. So viel Wut in einem kleinen Menschen. Es ist erstaunlich. Sie schimpft wie ein kleiner Rohrspatz. Ich seufze.

Wir Eltern sind die Felsen. Wir hören zu. Wir sind geduldig. Wir sind da. Klar, das geht. Aber irgendwie ist schlechte Laune ansteckend. Nachdem ich fünfmal etwas Positives entgegne, fühlt sich auch für mich alles etwas düster an. Der Himmel scheint grauer zu sein als eben noch. Mein Rucksack liegt schwer auf meinen Schultern. Und ich frage mich, warum wir überhaupt losgezogen sind. Zuhause im Wohnzimmer war es viel gemütlicher. Ich spüre, wie sich meine Stirn umwölkt.

Da zupft meine Tochter mich am Ärmel. Ich solle nicht so ein Gesicht machen. Davon würde sie schlechte Laune bekommen. Ich muss lachen. „Du hast doch angefangen!“ sage ich. Sie dreht sich auf dem Asphalt und macht einen Pferdchensprung. „Ich will einfach mal wieder was erleben!“ juchzt sie in einer Lautstärke, dass sich die Leute belustigt umdrehen. „Einkaufen ist langweilig!“ Eine Frau lacht und nickt. Nach Regen kommt wohl Sonnenschein. Ein Kind müsste man sein, denke ich mir. Dieser Wechsel der Gefühle ist uns Erwachsenen oft fremd geworden. Wenn wir schlecht gelaunt sind, tragen wir das ewig mit uns herum. Das Geheimnis ist wohl, es einfach mal herauszulassen. 

Wie wäre es, sich dafür Raum und Zeit zu nehmen? Denn letztlich holt uns sowieso alles ein. Dann kann es passieren, dass wir beim Autofahren jemanden anschreien, oder in der Apotheke anfangen zu weinen. Und dann rollen die Tränen und wir stehen da und wissen nicht, wohin mit uns. Wir haben uns so lange zusammengerissen, mit aller Kraft und Mühe und dann ist es passiert: wir haben ein Leck. Unaufhaltsam bahnt sich das Gefühl seinen Weg, es fließt heraus. Es will gesehen werden. Es will ausgesprochen werden. Und erstaunlicherweise ist es dann gleich leichter. Auf einmal ist er weg, der kiloschwere Rucksack voller Sorgen und Ängste.

Kinder sind gute Lehrer im Umgang mit Gefühlen. Sie fackeln da nicht lange. Ihre Gefühle blubbern ohne Hemmung an die Oberfläche. Sie zeigen sich in ihren kleinen Gesichtern, in der Körperhaltung, am Klang ihrer Stimme. Direkt und ehrlich. Als Erwachsene haben wir oft mit unseren Gefühlen zu kämpfen, wir schlucken sie hinunter, oder verbergen sie. Uns allen wohnt aber eine unglaublich große Bandbreite an Gefühlen inne. Wer sich seiner Gefühle bewusst ist, lernt mit ihnen umzugehen.

Es lohnt sich, sich Zeit zu nehmen und sich seine Gefühle in Ruhe anzusehen, in einem geschützten Rahmen der Wut oder Traurigkeit auf die Spur zu kommen – das kann sehr heilsam sein. Tränen dürfen rollen, Angst darf sichtbar werden. Es ist keine Schwäche, die eigenen Gefühle fließen zu lassen. Wer um seine Gefühlswelt weiß, flippt auch nicht bei einer Kleinigkeit aus, weil die Gefühle überschäumen.

Gott schenkt uns diese Fähigkeit: in uns selbst hinabzutauchen und die eigene Gefühlswelt zu erkunden. Das kann ganz allein zuhause geschehen, wenn wir uns Zeit nehmen, uns mit unseren Gefühlen auseinanderzusetzen, oder im Gespräch mit einem guten Freund, wenn wir bitten, einfach nur zuzuhören, damit alle Gefühle, die uns belasten ans Licht kommen dürfen. Auch ein Spaziergang in der Natur kann helfen, schwere Gefühle abzubauen und wieder frei durchatmen zu können.

Es tut gut, Gefühle in Worte zu fassen oder sie aufzuschreiben. Das Wahrnehmen löst so manchen Knoten. Jedes Gefühl darf gesehen werden. Gott sieht uns auch. Mit jedem Gefühl in uns. Er weiß, was uns quält, was uns bedrückt und was uns Freude bereitet. Er blickt voller Liebe tief in unser Herz und schubst uns an, damit wir von Zeit zu Zeit unsere schweren Rucksäcke abladen, hineinsehen und auspacken. Darunter sind oft die größten Schätze verborgen: unsere Stärken.

 

Katja Schmid

Journalistin und Radiomoderatorin arbeitet derzeit bei der Neuen Kirchenzeitung und als freie Autorin in Hamburg.