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Endspiel um Nord Stream 2

Oliver Sallet Washington | Andrey Gurkov | Bernd Riegert Brüssel | Jens Thurau Berlin | Nicolas Martin | Gero Rueter
30. Januar 2021

Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist zu einer politischen Tretmine geworden. Auf der einen Seite die USA, auf der anderen Russland. Deutschland und die EU mittendrin. Dazwischen Ökonomen und Ökologen. Ein Überblick.

Deutschland Rügen Gas-Pipeline Nord Stream 2
Bereit für Nord Stream 2 - Rohre für den Bau der Unterwasserpipeline auf der Insel RügenBild: Stefan Sauer/dpa/picture alliance

In der Ostsee läuft das Endspiel um ein Milliardenprojekt. Doch aus der Gaspipeline Nord Stream 2 ist längst ein Politikum geworden. Von 1230 Kilometer fehlen nur noch 148, um das Projekt fertigzustellen. Die Rohrschlange auf dem Meeresgrund ist der zweite Strang einer bereits seit zehn Jahren in Betrieb befindlichen Leitung. Durch sie soll noch mehr russisches Gas bis nach Deutschland und weiter nach Westeuropa fließen.

Doch der Widerstand wächst. Kurz vor dem Abschluss könnte das Projekt noch scheitern. Auch weil die USA unter Joe Biden den von Donald Trump begonnen Sanktions-Kurs fortsetzen wollen. Die Arbeiten gehen ungeachtet des politischen Streits weiter.

Der Gegner: die USA

Einen Neubeginn der transatlantischen Beziehungen solle es geben, so viel war bereits vor Joe Bidens Amtseinführung klar. Eine Rückkehr zu alten Partnerschaften, Multilateralismus, internationaler Kooperation. Doch ganz so einfach wird es nicht werden, auch darüber herrscht Einigkeit auf beiden Seiten des Atlantiks. Denn auch Präsident Biden weiß: Im Kern ist oft etwas Wahres an den rüpelhaften Behauptungen des nun ehemaligen Präsidenten Donald Trump. 

Deutschlands Militärausgaben sind da nur ein Beispiel - oder eben die in den USA ungeliebte Gaspipeline Nord Stream 2. Das wurde gleich bei der Senatsanhörung des neuen Außenministers Anthony Blinken deutlich, der zwar ganz anders im Ton auftritt als sein Amtsvorgänger Mike Pompeo, nicht aber in der Sache, wenn es um russische Gaslieferungen an Europa geht. Blinken versprach, vom US-Kongress beschlossene Sanktionen gegen die Pipeline einzusetzen, wenn es nötig sein sollte. Und Präsident Biden werde alles in seiner Macht stehende tun, um die Fertigstellung der Pipeline zu verhindern. 

Showdown in Sassnitz

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Hinter dieser vermeintlich harten Haltung der neuen US-Regierung stehen auf der einen Seite wirtschaftliche Interessen: Der Verkauf von US-Fracking-Gas nach Europa soll gefördert werden, denn auch Präsident Biden will mit seinem Buy American-Programm die unter Pandemie und Rezession leidende Wirtschaft fördern. Auf der anderen Seite steht das außenpolitische Interesse, den Widersacher Russland nicht unnötig zu stärken. Am Ende wird auch die neue Biden-Regierung ihre Politik in manchen Punkten nach dem eigenen Interesse ausrichten und damit auf sich ändernde globale Machtverhältnisse reagieren, auch wenn das nun seit Januar nicht mehr America First heißt und sich Stil und Tonfall in Washington deutlich verbessert haben.

Der Befürworter: Russland

Der russische Präsident Wladimir Putin hingegen geht davon aus, dass Nord Stream 2 fertiggestellt wird. Das erklärte er in Moskau auf seiner jährlichen Pressekonferenz am 17. Dezember 2020. "Nord Stream 2 ist ohne jeden Zweifel ein absolut vorteilhaftes Projekt für die gesamte Wirtschaft Europas, darunter auch für die Wirtschaft Deutschlands", so Putin.

Auch Konstantin Kossatschow, Chef des Außenausschusses im Föderationsrat - dem russischen Oberhaus - erklärte Mitte Januar: "In unserer strategischen Planung gehen wir davon aus, dass Deutschland als ein Land, das dieses Projekt immer als ein wirtschaftliches und nicht politisches Projekt betrachtete, diese Position auch in Zukunft beibehalten wird".

Trotz US-amerikanischer Sanktionen baut das russische Verlegeschiff "Fortuna" weiter an Nord Stream 2Bild: Bernd Wüstneck/dpa/picture alliance

Doch nicht alle in Russland teilen diese Meinung. Michail Krutichin, Partner der Beratungsfirma RusEnergy, hält das Projekt für tot. In einem Radiointerview am 20. Januar 2020 sagte er: "Dieses Projekt ist bereits im Dezember 2019 gestorben, als der US-Kongress ein Sanktionsgesetz verabschiedet hat".

Und auch der am Bau beteiligte russische Staatskonzern Gazprom hat Mitte Januar in einem Emissionsprospekt für Unternehmensanleihen ein Scheitern des Projekts nicht mehr ausgeschlossen. Das hat für viel Aufsehen in Russland gesorgt. Gazprom hat eine Inbetriebnahme der Nord Stream 2 in seinen Exportplänen fest einkalkuliert. Sollte die Pipeline viel später oder gar nicht fertiggestellt werden, wird Gazprom bei stabiler oder steigender Nachfrage aus Europa ukrainische Transportkapazitäten hinzubuchen müssen. Hinzu kommen Kosten für bereits gebuchte Weiterleitungen von Gas aus Nord Stream 2 nach Europa. Zudem bekommt Gazprom Gegenwind durch weitere Pipeline-Projekte südlich der russischen Grenze. 

Gespalten: Die EU

Die Europäische Union besteht darauf, dass die Ostseepipeline Nord Stream 2 kein europäisches Projekt, sondern im Wesentlichen eine deutsche Angelegenheit sei. Der Außenbeauftrage der EU, Josep Borrell, sagte Ende letzten Jahres, die Zukunft des Projekts liege in deutscher Hand und bei den dortigen Genehmigungsbehörden. Die EU hatte nach zähen Verhandlungen ihre Gasrichtlinie so verändert, dass sie jetzt auch auf Pipelines angewendet werden muss, die Gas aus Drittstaaten in die EU befördern. Klagen der Pipeline-Gesellschaften, die dem russischen Staatsunternehmen Gazprom gehören, gegen die Anwendung dieser EU-Richtlinie hatte das Gericht der Europäischen Union in Luxemburg vergangenes Jahr als unbegründet abgewiesen.

Joe Biden: Bei Nord Stream 2 führt er die Sanktionspolitik seines Vorgängers fortBild: Evan Vucci/AP Photo/picture alliance

Die Nord Stream 2-Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz muss nun mit Auflagen entsprechend der EU-Gesetze rechnen. Betrieb der Pipeline und Verkauf des Gases müssen demnach in getrennten Händen liegen.

Das Europäische Parlament hingegen hat mehrmals mit großer Mehrheit das Ende von Nord Stream 2 gefordert, weil der Einfluss Russlands auf den europäischen Energiemarkt zu groß werde und der Kreml wegen der Menschenrechtslage abgestraft werden müsse, vor allem nach der Inhafttierung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny und der Verhaftung von tausenden seiner Anhänger in Russland. Auch Frankreich fordert inzwischen einen Stop des Baus.

Auch in Polen und Litauen treten fast alle Parteien seit Jahren geschlossen gegen das Energieprojekt ein, weil man Erpressung durch Russland und Gefahren für die bisherigen Durchleitungsländer wie die Ukraine oder die Slowakei sieht.

Unter den EU-Mitgliedsstaaten treten Deutschland, die Niederlande und Österreich für den Pipeline-Bau ein. In diesen Ländern haben die an Nord Stream 2 beteiligten Firmen ihre Sitze.

Die EU-Kommission ist zwar nicht glücklich mit dem Nordstream-Projekt, stellt sich aber schützend vor die Betreiber, wenn es um amerikanische Sanktionsdrohungen geht. Solche extraterritorialen Sanktionen verstoßen nach Auffassung der Kommission klar gegen Völkerrecht und müssten entsprechend beantwortet werden.

Zurückhaltend: Deutschland

Prinzipiell hält die deutsche Regierung die Pipeline für eine gute Sache, betont aber stets, dass es sich um ein "rein wirtschaftliches Projekt" handele. Nach massiver Kritik an dieser eher defensiven Haltung - sowohl von Menschenrechts- als auch von Umweltgruppen - fügen Regierungssprecher seit einiger Zeit hinzu, dass die berechtigten Sicherheitsinteressen etwa der Ukraine beachtet werden müssten.

Und nach der Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalnyim Spätsommer vergangenen Jahres äußerten auch vereinzelte Abgeordnete der Regierungsfraktionen im Bundestag die Ansicht, man müsse noch einmal über die Fertigstellung von Nord Stream 2 nachdenken. Die Regierung aber blieb dabei: Der Fall Nawalny und die Pipeline, das sind zwei verschiedene Dinge.

Die Opposition in Deutschland denkt anders: Der Vorsitzende der FDP, Christian Lindner, hat ein Moratorium für den Weiterbau gefordert. Er sagte dem Nachrichtenmagazin Spiegel: "Solange in Russland grundlegende Menschen- und Bürgerrechte verletzt werden, können wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Davon sind auch Infrastrukturprojekte wie Nord Stream 2 betroffen." Und der Außenexperte der Grünen, Omid Nouripour, nennt das Projekt im Gespräch mit der DW gar einen "klimaschädlichen Spaltpilz für Europa."

Der Abschnitt der Pipeline in deutschen Gewässern ist bereits beendet. Das Ende liegt in Mecklenburg-Vorpommern. Wohl auch deshalb unterstützt die dortige SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig das Projekt. Nicht nur das. Wirklich brisant ist die Rolle ihrer neuen Stiftung mit dem Namen "Klima- und Umweltschutz Mecklenburg-Vorpommern". Sie soll mögliche amerikanische Sanktionsdrohungen gegen den Weiterbau umgehen. Die Stiftung soll sich "vorrangig an der Vollendung von Nord Stream 2 beteiligen" und so den Druck auf die beteiligten Unternehmen verringern.

Klare Sicht auf das Projekt Nord Stream 2 ist kaum möglich - alle Beteiligten haben ihre eigene VersionBild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Noch hält in den Regierungsparteien aber die Einigkeit, was das Pipeline-Projekt angeht. So sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) dem "Handelsblatt", er sei schon immer der Meinung gewesen, "dass es problematisch ist, Projekte, die auf mehrere Jahrzehnte angelegt sind, alle paar Monate in Frage zu stellen. Sonst werden private Investoren nicht mehr zum Engagement bereit sein."

Wie viel Gas brauchen Deutschland und Europa?

Kurzfristig verfügen Deutschland und Europa über gefüllte Gasspeicher. Diese könnten den europäischen Energiehunger im Zweifel für fast drei Monate decken. Zu diesem Schluss kommen die Energieexpertinnen Franziska Holz und Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einem Kurzgutachten für den "Naturschutzbund Deutschland" (NABU).

Demnach gib es in Deutschland keine ″Deckungslücke″ beim Gas. Soll heißen, die Nachfrage kann kurzfristig nicht das Angebot übersteigen. Die Autorinnen verweisen auch auf bereits bestehende Pipelines und die Möglichkeit, Engpässe auch flexibel durch Flüssiggas-Importe (LNG) auszugleichen.

Auch der Energieökonom Marc Oliver Bettzüge von der Universität Köln kommt in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu dem Schluss, dass Nord Stream 2 ″nicht von existenzieller Bedeutung für die Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Gasversorgung in Deutschland oder Europa″ ist. Er verweist aber darauf, dass der Gaspreis durch Nord Stream 2 ″spürbar″ sinken könne.

Langfristig sind sich die Energieexperten einig: Jede weitere Importquelle macht unabhängiger. Vor allem, da Deutschland nur einen Bruchteil seines Verbrauchs selbst fördert, klingt das Projekt nach einer sinnvollen Ergänzung. Im Fall von Nord Stream 2 trifft das aber nur auf die Infrastruktur zu. Durch die Pipeline hätte man im Fall von Angriffen auf Energieeinrichtungen einen weiteren Gaskorridor. Politisch unabhängiger würde man dadurch aber nicht - eher das Gegenteil könnte eintreten, denn schon jetzt ist Russland Deutschlands wichtigster Gaslieferant (siehe Grafik).

Aber auch langfristig sei Nord Stream 2 energiewirtschaftlich nicht nötig, schreiben Kemfert und Holz. Eine unwahrscheinliche, aber mögliche ″Deckungslücke″ könnte über noch bestehende freie Kapazitäten aus Russland über die Ukraine und die Transgas-Pipeline ausgeglichen werden, so die Autoren.

Widersacher: Erdgas und das Klima

″Für das Einhalten der Klimaschutzziele müssen wir komplett aus Kohle, Öl und Gas aussteigen", sagt Niklas Höhne, Mitglied im Weltklimarat (IPCC) und Leiter des Forschungsinstituts NewClimate in Köln.

″Das heißt, wir brauchen insgesamt auch in Deutschland weniger Gas und weniger Gasinfrastruktur und nicht mehr", so Höhne gegenüber der DW. Genau das könnte aber durch Nord Stream 2 geschehen. ″Wir würden uns auf mehr Gas verlassen und das wäre kontraproduktiv für den Klimaschutz″, sagt Höhne.

Die deutsche Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) hat sich dennoch für den Weiterbau ausgesprochen. Nach dem Ausstieg aus Kohle und Atomstrom benötige es für einen Übergangszeitraum Erdgas.

Fridays for Future protestieren gegen den Bau von Nord Stream 2Bild: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/picture alliance

Die Einschätzung, dass Gas eine Brückentechnologie sei, sieht Höhne als überholt an. ″Vor über zehn Jahren hatten wir noch die Zeit, um langsam auszusteigen aus den Treibhausgasemissionen. Doch diese Zeit haben wir verspielt.″  Ein großes Problem von Erdgas ist vor allem das hohe Treibhausgaspotential. Erdgas besteht vor allem aus Methan und das hat laut Weltklimarat in den ersten 20 Jahren einen 87 Mal stärkeren Treibhauseffekt im Vergleich zu CO2.

Zudem werden bei Förderung, Transport und Speicherung kleine Mengen Methan freigesetzt. Laut dem Kurzgutachten von Kemfert und Holz vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung "liegt die Klimabilanz bei hohen Leckage-Raten in der Förderung oder dem Transport ungefähr bei dem von Kohle, wenn man den gesamten Lebenszyklus der Emissionen berücksichtigt". Will heißen: Gas ist wohl am Ende nicht weniger schädlich als Kohle.

Der Artikel wurde am 02.02.2021 aktualisiert, um die veränderte Haltung Frankreichs in Bezug auf Nord Stream 2 zu berücksichtigen.

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