Mit Recycling, selbst angebautem Gemüse und Konsumverzicht wollen Aktivisten eine deutsche Kleinstadt verändern. Das Ziel: Weg von fossilen Brennstoffen, nachhaltig wirtschaften und so “enkelfreundlich” leben.
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Frisches Obst, Salat und weggeworfene Früchte aus dem Container des Bio-Markts – alles gemixt und fertig ist der Smoothie, ein Fruchtgetränk. Weggeworfene Früchte aus dem Müllcontainer? Niemand verzieht das Gesicht. "Unser CO2-Fußabdruck hängt doch zu einem Viertel von unserer Ernährung ab", sagen sie. Essen ist Politik – hier auf jeden Fall. Ein Picknick, eine bunte Decke, eine bunt gemischte Gruppe. Frauen und Männer, einige mit Hüten und Mützen, alle in locker sitzenden Jeans und Leinen-Shirts.
Neben der Decke biegt Hans Spinn eine große Pappe, die mit einer silberfarbenen Folie beklebt ist. Er steckt sie in einen Korb, so dass ein Trichter entsteht. Spinn ist 57 Jahre alt. Er trägt ein gelbes ärmelloses Shirt, eine kurze schwarze Hose. "So'n Solarkocher", sagt er knapp, "haben schon die Assyrer gehabt". Dann stellt er ein schwarzgefärbtes Einmachglas hinein. "In zwei Stunden sind die Kartoffeln darin gar, ganz ohne Strom - geht sogar im Winter."
Hans Spinn baut einen Solarkocher aufBild: DW / Grit Hofmann
Spinn und die anderen 20 Aktivisten haben Witzenhausen, eine Kleinstadt mitten in Deutschland, zu einer "Transition Town" gemacht. Die Bewegung wurde 2004 in Großbritannien gegründet, inzwischen gibt es sie in 30 Ländern. Ihre Anhänger wollen weg von fossilen Energien. Sie sind überzeugt, es wird viel zu viel CO2 in die Luft geblasen, und es werden zu viele Ressourcen und Energie verschwendet.
Minze im Basketball, Schnittlauch an der Regenrinne
Witzenhausen hat nur 15.000 Einwohner – davon sind knapp 1000 Studenten, die an der Außenstelle der Universität Kassel "ökologische Landwirtschaft" belegen. Doch es sind keinesfalls nur junge Idealisten, die sich auf der Picknick-Decke versammelt haben. Hier sitzen auch solche, die sich als Rentner bequem im Gartenstuhl zurücklehnen könnten. Hans Spinn hat jahrelang gegen Atomkraftwerke und Castor-Transporte protestiert. Stefan Wöllner neben ihm ist 62, er war in der Friedensbewegung aktiv, demonstrierte in den 1980er Jahren gegen Raketen und Aufrüstung. Nun sind sie "Transition-Towner", wie sie sich selbst nennen.
Revolution aus dem Garten
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Postfossile Trendsetter
Zwanzig Aktivisten haben sich in Witzenhausen zusammengeschlossen. Sie haben ihre Stadt zu einer "Transition Town" gemacht. Ausgangspunkt: Wir Menschen verbrauchen zu viel Energie, blasen zu viel Kohlendioxid in die Luft. Die "Transition Towner" wollen eine "postfossile Zukunft", also dass die Menschen unabhängig werden von endlichen Rohstoffen.
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Das Vorzeigeprojekt: Städtisches Gärtnern
Überall in der Stadt haben sie kleine Beete und Gärten angelegt. Jeder Einwohner kann sich bedienen: Kürbisse, Minze, Schnittlauch. Das gemeinschaftliche Gärtnern soll das Bewusstsein verändern: Die Ressourcen der Erde sind zum Teilen da - auch zwischen den Generationen.
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Schaut her!
Der Schaugarten ist das Aushängeschild der „Transition-Towner“. Er ist direkt am Nordbahnhof gelegen, hier kommen alle Besucher der Stadt vorbei. Die Aktivisten müssen auf ihr Engagement aufmerksam machen. Denn obwohl sie sich schon 2010 gegründet haben, sind sie in ihrer Stadt noch nicht sehr bekannt.
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Pflücken erlaubt
Die Pflücken-Erlaubt-Schilder zeigen die Gemüsebeete oder Kräuter-Töpfe an, aus denen sich die Menschen in Witzenhausen bedienen dürfen. „UnvergEssbar“ heißt das Mitmach-Projekt. Einmal in der Woche laden die Aktivisten die Bürger in die Gärten ein, um Werbung für ihr Projekt zu machen.
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Regional statt global
Die Aktivisten wollen auch darauf aufmerksam machen, dass viele Lebensmittel in der Region rund um Witzenhausen angebaut werden. Wer etwa hier vor Ort eine Tomate ernten kann, versteht besser, dass Obst und Gemüse nicht klimaschädlich aus anderen Ländern wie etwa Spanien angeliefert werden muss.
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Ein zweites Leben
Die Transition-Towner in Witzenhausen haben kaum Geld. Für ihre Pflanzaktionen bekommen sie deswegen Komposterde und Pflanzen gesponsort. Als Blumentöpfe halten schon mal aufgeschnittene Basketbälle her. Das ist ein starkes Symbol: Wiederverwertung statt Wegschmeißen, ist eines ihrer Leitmotive.
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Das Rad nicht neu erfinden
Auch Hans Spinn setzt auf Wiederverwertung: Früher hat er einen Fahrradladen gehabt - heute besitzt er eine kleine Werkstatt, in der er schraubt und repariert; auch für Andere, wenn sie seine Hilfe brauchen. Aber er repariert nicht nur, er reist auch: Mit dem Drahtesel ist er schon einmal nach Frankreich, um dort gegen die Atomkraft zu demonstrieren.
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Transition Town – eine weltweite Bewegung
Die Transition-Town-Bewegung ist im Jahr 2004 von dem Iren Rob Hopkins gegründet worden. Inzwischen haben etwa 450 Kommunen in mehr als 30 Ländern den offiziellen Status „Transition Town“. In Deutschland haben acht Städte diesen Status – es gibt aber zusätzlich viele Initiativen.
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Mehrere Generationen – eine Bewegung
Hans Spinn und Stefan Wöllner sind Rentner. Beide waren früher in Umwelt- und Friedensbewegungen aktiv. In der Transition-Town-Gruppe gehören sie zu den Älteren. Mit ihren Erfahrungen bremsen sie die Studenten manchmal, wenn deren Ideen zu verrückt werden.
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Kochen mit Sonnenkraft
Nicht verrückt, aber nur etwas für geduldige Menschen ist die Idee des Solarkocher: Er besteht aus einem großen Karton, der mit einer Folie beklebt ist. Er wird so gebogen, dass die Sonneneinstrahlung auf das Glas gelenkt wird, das in der Mitte des Kochers steht. Es ist schwarz eingefärbt, weil es so die Sonnenwärme besser aufnimmt. Kartoffeln brauchen darin rund zwei Stunden, bis sie gar sind.
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Kirschenstadt – kein Witz!
Witzenhausen ist eine kleine Stadt in der Nähe von Kassel. 15.000 Menschen leben hier. Der Ort bekam im 13. Jahrhundert sein Stadtrecht. Noch heute zeugen viele Fachwerkhäuser in der Innenstadt von der langen Geschichte. In der Umgebung liegen die größten und ältesten Kirschanbau-Gebiete Deutschlands. Die Stadt nennt sich deshalb auch „Kirschenstadt“
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Samen und Früchte haben Tradition
1898 wurde in Witzenhausen die Deutsche Kolonialschule gegründet. Sie wurde auch Tropenschule genannt und diente dazu, die Übersiedlern in die deutschen Kolonien landwirtschaftlich auszubilden. Heute ist in diesem Gebäude eine Nebenstelle der Universität Kassel untergebracht. Es gibt nur einen Studiengang: Ökologische Agrarwissenschaften.
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Eine Herausforderung für die Bürgermeisterin
Angela Fischer ist seit 2005 Bürgermeisterin in Witzenhausen. Sie ist als junge Agraringenieurin nach Witzenhausen gekommen, hat in der Stadt ihre Diplomarbeit geschrieben. Heute steht sie als Bürgermeisterin vor einer riesigen Herausforderung: die Verschuldung der Stadt. Bürgerinitiativen wie Transition Town kann sie deshalb kaum finanziell unterstützen.
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Solidarische Landwirtschaft
Die Aktivisten von Transition Town unterstützen auch die lokalen Bauern. In Witzenhausen haben sich fünf Gärtner zusammen geschlossen und versorgen etwa 60 Personen mit Gemüse aus der Region. Jeder zahlt einen festen Beitrag und bekommt, was in der entsprechenden Jahreszeit wächst: Erdbeeren, Salat, Kürbisse. Beide Seiten profitieren davon.
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Gar nicht übel!
Was für Gegenstände gilt, gilt auch für Lebensmittel, sagen die Aktivisten von Transition Town: Es werde viel zu viel weggeworfen. Wenn Früchte und Gemüse im Supermarkt nicht mehr knackig sind, werden sie weggeworfen. Einige Aktivisten nutzen diese Früchte um sie zu verarbeiten, etwa zu einem Fruchtshake.
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Erst Milch dann Geld – das zweite Leben der Milchtüte
Einmal in der Woche laden die Transition Towner interessierte Menschen zu einem “Recycling-Nachmittag” ein. Dann zeigen sie zum Beispiel, wie aus alten Tetrapak-Milchtüten diese Geldbörsen entstehen. Statt den kostbaren Rohstoff aus Papier und Aluminium zu verbrennen, wird er recycelt. Kann jeder!
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Die nächste Generation
Die Transition Towner von Witzenhausen sind zwischen 73 und 1 Jahr alt. Die jüngste ist Ronja Hable. Ihre Mutter ist aktiv in der Bewegung und Ronja ist immer mit dabei. Das Gießen der Pflanzen mit ihrer Mini-Kanne ist ihre Lieblingsbeschäftigung.
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Lebenswerte Städte
“Transition Town” bedeutet: im Kleinen erproben, was weltweit funktionieren kann. Die Transition Towner wollen die lokale Wirtschaft stärken, mit weniger Energie auskommen, die persönliche CO2-Bilanz verringern. Das ist ohne Verzicht möglich, sagen sie. Aber ein bisschen Umdenken sei nötig für den großen Wandel.
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2010 hat Hans Spinn die Idee nach Witzenhausen gebracht - sein Wirken sieht man hier überall. Besonders im Stadtzentrum, wo er jetzt kurz in einer Nebenstraße verschwindet, um gleich mit einer gelben Gießkanne wieder aufzutauchen. "Die haben die Tomaten ja schon wieder fast vertrocknen lassen", murmelt Spinn – ein kleiner Vorwurf an seine Mitstreiter. Die Tomaten wachsen in Blumenkübeln. Spinn zeigt auf ein pinkfarbenes Schild, das über der Tomatenpflanze hängt: "UnvergEssbar". Seine Idee. Überall in der Stadt hängen diese Schilder, darunter stehen Töpfe mit Kräutern, Früchten, Gemüse. Kleine offene Gärten – in Nischen, vor Geschäften, mitten auf dem Marktplatz: Manchmal wächst Minze aus aufgeschnittenen Basketbällen, in leeren Kaffeetüten, die an Regenrinnen hängen, sprießt Schnittlauch. "Jeder kann sich nehmen, was er will", sagt Spinn.
"Ich möchte nicht wie ein Parasit leben"
Demokratisches Mini-Gärtnern zur Rettung der Welt? "Das ist nur das Aushängeschild", sagen die Transition-Towner. "Unser Hauptziel ist eine bessere 'resilience', Widerstandskraft." Dafür müssten sich die Menschen aber ändern, sich vorbereiten auf eine Zeit ohne Erdöl. Die Aktivisten fordern Konsumverzicht, Recycling, lokale Wirtschaftskreisläufe. "Enkelfreundlich leben" sei das Kriterium, sagt Svadesha. Der kleine schmale Mann mit grauem Bart heißt eigentlich Rüdiger Urban und ist 73 Jahre alt.
Der junge Mann neben ihm nickt. Er könnte Svadeshas Enkel sein, Farid Melko ist 27. Er ist so etwas wie das Gesicht der Bewegung: Er gestaltet die Internetseite, verbreitet die Ideen über Facebook, gibt Interviews. Gerade hat er mit einem großen Fernsehsender einen Dreh vereinbart. "Ich möchte nicht wie ein Parasit leben", sagt er. "Was geben wir denn schon weiter? Außer Atommüll." Er schwingt sich auf sein Rad, muss los: neue Mietverhandlungen für den Laden der Gruppe, 30 Quadratmeter mitten in der Fußgängerzone. Wird die Miete jetzt erhöht, können sie den Raum nicht halten. Das wäre ein Rückschlag. Denn der Laden gibt der Bewegung ein Gesicht, hierhin laden sie die Witzenhäuser ein, zu Veranstaltungen oder Filmen. Die Transition Towner werden dadurch bekannter.
Überall in der Stadt haben die Aktivisten kleine Gärten gepflanzt - Pflücken und Naschen ist hier strengstens erlaubtBild: DW / Grit Hofmann
Zwischen Sympathie und Vorbehalten
Wer auf dem Marktplatz nachfragt, trifft auf viel Sympathie, aber auch auf Vorbehalte. "Ach die mit den Beeten! Das sieht doch alles ziemlich Kuddelmuddel aus", sagt die Verkäuferin eines Spielzeug- und Andenkenladens. "Und dieser Spinn Hans, ein bisschen verpeilt ist der doch. Da will ich nicht stehen bleiben und mich volltexten lassen." Es klingt nicht böse, aber skeptisch. "Mir ist das zu abgehoben", sagt der Archivar im Geschäft gegenüber, "viel zu weit weg von der Realität. Aber dass wir so berühmt werden, das ist doch schön."
Witzenhausen ist eine von acht offiziellen Transition Towns in Deutschland. Ein bisschen stolz wirkt die Bürgermeisterin Angela Fischer schon. Sie selbst ist Agraringenieurin. Doch das eigentliche Aushängeschild der Stadt sei doch die Universität mit ihren internationalen Studenten. "Witzenhausen ist mehr als Transition Town. Klar, das ist ein spannendes Thema. Doch ob man dadurch Investoren anlockt?" Und die wären nötiger als Fernseh- und Zeitungsartikel, denn Witzenhausen ist hoch verschuldet. Angela Fischer kann vieles nicht finanzieren, was sich die Bürger wünschen. Auch keinen Mietzuschuss für einen Laden von 20 Ökoaktivisten. Statt eines Wandels für morgen sorgt sie sich um das Überleben heute.
Seit drei Monaten haben die Aktivisten einen Laden in der Innenstadt. Er macht die Bewegung sichtbar und bietet eine AnlaufstelleBild: DW / Grit Hofmann
Bei der letzten Bürgermeisterwahl war auch Spinn am Start. Sieben Prozent hat er bekommen – aus dem Stand, ohne Wahlkampf. Ob Ökospinner oder nicht, er fühlt sich bestätigt: "Ich sehe doch, dass das immer mehr machen: spinnen."