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Die geraubten Kinder der Militärdiktatur

Regina Mennig10. April 2013

30 Jahre nach dem Ende der argentinischen Diktatur tauchen immer noch Opfer auf: Kinder von damals Verfolgten, die bei Militärfamilien aufwuchsen und nun ihre wahre Identität entdecken.

Die "Großmütter der Plaza de Mayo" (Foto: picture alliance /AP Photo)
Bild: picture alliance/AP Photo

Bei der Geburt seines Sohnes wurde Guillermo Pérez Roisinblit von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt und später, bei der Geburt seiner Tochter, noch einmal. "Der Anblick der neugeborenen Babys führte mir vor Augen, wie wehrlos ich selbst in dem Moment war, in dem ich geraubt wurde", erzählt der 34-jährige Argentinier. Er atmet tief durch, bevor er weiter redet: "Ich weinte, weil ich nicht weiß, ob mein Vater das Glück hatte, sein zweites Kind - also mich - im Arm zu halten." Von seinem Vater fehlt bis heute jede Spur, von seiner Mutter ebenso.

Guillermo gehört zu den schätzungsweise 500 Argentiniern, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 als Kinder von Regimegegnern in Foltergefängnissen zur Welt kamen. Viele der Eltern starben vermutlich bei den sogenannten Todesflügen, bei denen Militärangehörige Gefangene aus Flugzeugen über dem Río de la Plata abwarfen. Die Militärs verwischten die Spuren über den Verbleib der Babys. Was sie dabei unterschätzten: die Angehörigen der Opfer und ihre beharrliche Suche nach ihren verschwundenen Kindern und Enkeln. Diese Suche treibt bis heute zum Beispiel Rosa Tarlovsky de Roisinblit an. Sie ist Guillermos Oma, 93 Jahre alt und Vize-Präsidentin der "Großmütter der Plaza de Mayo".

Guillermo an seinem ersten Geburtstag, den er mit seiner leiblichen Familie feierteBild: Privat

Der lange Atem der "alten Mütterchen"

"Die Militärs hätten wohl niemals geglaubt, dass wir so lange durchhalten würden - inzwischen sind es 35 Jahre", sagt Rosa Tarlovsky, und Stolz schwingt in ihrer resoluten Stimme mit. "Sie sagten: Lasst sie doch auf die Straße gehen, diese alten Mütterchen. Nach ein paar Wochen werden sie aufgeben und nur noch zu Hause weinen." Viele Frauen in Rosa Tarlovskys Lage verschanzten sich aber keineswegs mit ihrer Verzweiflung über die Verhaftung ihrer schwangeren Töchter.

Der Bedrohung durch die Militärs trotzten sie mit geheimen Treffen: In Cafés und auf Plätzen versammelten sie sich zum Matetrinken, tauschten heimlich Zettel aus und unterhielten sich mit Code-Namen über ihre Kinder, Enkel und die Verfolger. Den Amnestiegesetzen nach dem Übergang zur Demokratie setzten sie Hartnäckigkeit entgegen: Über 14 Jahre zog sich ein Prozess hin, an dessen Ende im Juli 2012 die Ex-Diktatoren Jorge Videla und Reynaldo Bignone wegen systematischen Kindesraubs verurteilt wurden. Auf der Anklagebank saßen in den vergangenen Jahren auch immer wieder die vermeintlichen Eltern der geraubten Kinder: häufig Ehepaare aus den Kreisen des ehemaligen Militärregimes, die ein Baby von Verfolgten als ihr eigenes eintragen ließen und großzogen.

Rosa Tarlovsky de Roisinblit im Büro der "Großmütter" - im Hintergrund ein Foto ihrer verschwundenen Tochter PatriciaBild: Regina Mennig

Die Geschichte vom verlorenen Bruder

Ausgerechnet Guillermos ältere Schwester Mariana ging ans Telefon, als sich im April 2000 ein anonymer Anrufer im Büro der Großmütter meldete und den Namen eines möglicherweise geraubten Kindes nannte. Dieses Kind hieß Guillermo, war 21 Jahre alt und hatte verblüffende Ähnlichkeit mit den Fotos von Marianas verschwundenen Eltern. Ein DNA-Abgleich mit dem Material aus der Gen-Datenbank der Großmütter brachte die Gewissheit: Guillermo ist Marianas Bruder, hat Großmütter namens Argentina und Rosa, und er sollte nach dem Willen seiner Mutter eigentlich Rodolfo heißen. Guillermo war zunächst überwältigt, wollte die "gemeinsam verlorenen Jahre" mit seiner leiblichen Familie nachholen.

Dann begann der Gerichtsprozess gegen die beiden Menschen, die er sein Leben lang als Eltern betrachtet hatte. Sein vermeintlicher Vater war ein Militär der Luftwaffe. Ihn hat Guillermo als gewalttätigen Mann in Erinnerung, der früh Frau und Kind verließ. Beim Blick auf seine vermeintliche Mutter standen Guillermos Gefühle aber anders: "Sie war die Person, die sich um mich gekümmert hat, wenn ich krank war, die für mich gekocht hat, die mich großgezogen hat. Zu ihr verspürte ich Zuneigung. Und diese Frau wurde nun von meiner eigenen Großmutter vor Gericht angeklagt - da wollte ich eine Zeit lang nichts mehr von meiner leiblichen Familie wissen." Das Ehepaar bekam sieben Jahre Gefängnis - im Vergleich zu den Haftstrafen, die in den jüngeren Fällen ausgesprochen wurden, ein eher mildes Urteil.

Guillermo kam im Foltergefängnis der Marineschule ESMA zur Welt - heute ist dort eine GedenkstätteBild: Regina Mennig

Die fragwürdige Rolle des katholischen Milieus

Über 100 vermisste Enkel sind aufgetaucht, seit die Großmütter mit der Suche begonnen haben: durch anonyme Hinweise, wie in Guillermos Fall, oder weil die Betroffenen an ihrer Familiengeschichte zweifelten und selbst bei den Großmüttern anklopften. Das passiert auch deshalb, weil die Arbeit der Großmütter in Gesellschaft und Medien überaus präsent ist. Die argentinische Opfer-Bewegung und ihre Forderung nach Aufklärung der Verbrechen gilt als besonders stark und durchsetzungsfähig.

Professor Detlef Nolte, Lateinamerika-Experte am GIGA-InstitutBild: DW/E. Romero-Castillo

In einem anderen Punkt ist der Fall Argentinien allerdings die negative Ausnahme: "In vielen lateinamerikanischen Ländern ist die katholische Kirche aktiv für den Schutz der Menschenrechte eingetreten, hat oppositionellen Politikern Unterschlupf gewährt. In Argentinien haben Teile der Amtskirche offen mit den Militärs kooperiert", sagt Detlef Nolte vom GIGA-Institut. Auch im Zusammenhang mit den geraubten Kindern führen Spuren ins Umfeld der katholischen Kirche. Beim nationalen Strafgericht in Buenos Aires wird derzeit die Rolle des "Movimiento Familiar Cristiano" (MFC) unter die Lupe genommen. Das MFC ist eine der Kirche nahestehende Organisation und steht im Verdacht, viele Babys aus den Foltergefängnissen an linientreue Familien weitergereicht zu haben.

Der Suchaufruf der Großmütter läuft in Fernsehspots und findet sich auf den Straßen von Buenos Aires: "Wenn du Zweifel an deiner Identität hast, wende dich an die Abuelas de Plaza de Mayo"Bild: Regina Mennig

Familienbande

Guillermo kennt die Geschehnisse unmittelbar nach seiner Geburt nicht genau: "Ich weiß nur, dass mein vermeintlicher Vater mich entgegengenommen und dann seiner Frau gebracht hat." Was ihn nach dem Gerichtsverfahren auf Distanz zu seiner vermeintlichen Mutter gehen ließ, beschreibt er als "die große Lüge im Hintergrund": Was wusste sie über seine Herkunft - und wieso sagte sie ihm nie, dass er nicht ihr leiblicher Sohn ist? Den Kontakt will Guillermo dennoch nicht kappen. Schließlich sei die Frau, die er früher "Mama" nannte, die Verbindung zu den ersten 21 Jahren seines Lebens. Die Verbindung zu seiner wiedergefundenen Identität sind seine Großmütter und seine Schwester Mariana. Und inzwischen sind da auch seine eigenen kleinen Kinder - die ersten Familienmitglieder, die auf ganz normale Weise in sein Leben traten.

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