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Politik

Die Geschichte des Gefangenen Nr. 72

Anchal Vohra dh
11. August 2018

365 Tage wurde Mizyed Khalid Tahad in Syrien gefoltert. Er hatte bei den Aufständen 2011 demonstriert. Plötzlich ließ man ihn frei. Seither ist nichts mehr, wie es einmal war. Anchal Vohal berichtet aus dem Libanon.

Folter-Opfer von Assads Regime
Bild: DW/A. Vohra

Immer, wenn es dunkel wurde, kamen die Erinnerungen an sein Leben in Freiheit wieder hoch. Immer dann, wenn die Wächter gegen die schwere Eisentür schlugen, wenn die 30 Insassen, mit denen er sich die Zelle teilte, ihre Betten machten.

Dann erinnerte er sich an die Grillabende mit Freunden, und vor seinem inneren Auge lief die Geburt seines ersten Kindes Yassin wieder ab. In seinen Gedanken wanderte er durch die Straßen seines Viertels Baba Amr und probierte die Aprikosen von seinen Feldern. Im Delirium hoffte er oft, dass alles nur ein böser Traum sei, und wenn er aufwachte, würde er zu Hause sein. 

Seine Erinnerungen verschwammen. Dann plötzlich fühlte er, wie der Schmerz zurück in seinen Körper kroch. Einige Verletzungen waren noch frisch, er war erst wenige Stunden zuvor gefoltert worden. Andere Wunden waren schon älter und eitrig. Doch die schlimmen Schmerzen lenkten ihn ab von den Gedanken daran, ob seine Frau oder seine Mutter missbraucht wurden - so wie man es angedroht hatte, obwohl er ein ungelesenes Geständnis unterschrieben hatte. Lag seine Familie womöglich tot unter den Trümmern der zerbombten Häuser? Er schluchzte in sein Kopfkissen. Allerdings leise. Denn nur ein leiser Ton konnte eine schlimme Strafe nach sich ziehen. 

Mizyed Khalid Tahad, Gefangener Nummer 72, hat 365 solcher Nächte überstehen müssen.

Mizyed Tahad ist seit Beginn der Kämpfe in Homs fast blindBild: DW/A. Vohra

Ein Leben im Tag von Tahad

Der Tag begann meist damit, dass die Gefängniswärter alle anbrüllten. Sobald ein Soldat die Zelle betrat, mussten alle Insassen von ihren Betten springen, sich mit dem Gesicht zur Wand stellen, ihre T-Shirts über die Köpfe ziehen und nach unten gucken. Tahad konnte dann immer nur noch Schatten sehen, die sich überlagerten.

"Sprich, du Bastard! Wer ist der Präsident Syriens, wer ist dein Gott?", schrien die Wächter. "Baschar al-Assad, lang lebe unser Präsident", erwiderten dann alle Gefangenen einstimmig.

Erst wenn der Soldat ein bisschen Brot auf den Boden warf, durften sich alle umdrehen und in die Hocke gehen. Drei Gefangene teilten sich ein Brot, und jeder bekam einige Löffel Joghurt. Das war's. 

Es herrschte Routine in Assads Folterkammern. Mahlzeiten gingen meistens einher mit Prügelstrafen. Dieses Prozedere nannte man dann euphemistisch "Verhöre".

Stundenlang wurden Gefangene an den Handgelenken aufgehängt, ihre Körper wurden in Gummireifen  gequetscht, dazu kamen unzählige Schläge mit der Peitsche: Das waren die gängigsten Foltermethoden. 

Baschar al-Assad und das Erbe seines Vaters

Folter in Syrien hat eine lange Tradition. Nach Angaben von Amnesty International hat Baschar al-Assads Vater Hafez bereits zu seiner Zeit 35 verschiedene Foltermethoden anwenden lassen. Assad senior soll einige dieser Methoden von Nazi-Verbrecher Alois Brunner gelernt haben. Brunner war im Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich gewesen für die Deportation von Hundertausenden Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager. 1954 gelang es ihm, unter falschem Namen nach Syrien zu fliehen, wo er bis zu seinem Tod lebte.

Nummer 72 wusste, dass es keine Hilfe für ihn geben würde. Er war nur einer von Tausenden Gefangenen. Repression gehörte zum Alltag, und die Bewohner von Homs, so wie Mizyed, mussten sich der Herrschaft des Regimes beugen. Mizyed war einer von denen, die zu Beginn der Aufstände in Syrien auf die Straße gegangen waren und Reformen gefordert hatten. Die Proteste zogen den Zorn des Regimes auf sich.

Einer der Schergen ist Jamil Hassan, Chef des syrischen Luftwaffengeheimdienstes und einer der engsten Berater Assads. Der mächtige Geheimdienstchef soll dafür verantwortlich sein, dass seit 2011 Hunderte Menschen in syrischen Gefängnissen gefoltert wurden. In einem Interview 2016 sagte er, er hätte die Opposition gerne mit noch heftigeren Methoden in die Knie gezwungen. Hassan spielt auf  das Massaker von Hama an. Das war 1982, als die syrische Armee die als Hochburg der Muslimbruderschaft bekannte Stadt angriff, um einen aufflammenden Aufstand der Muslimbrüder niederzuschlagen. 

Mizyed kann sich an die Ereignisse von 1982 nicht erinnern. Doch er lernte die Rücksichtslosigkeit von Baschar al-Assad kennen: Bilder von jungen verstümmelten Menschen aus Daraa waren im Fernsehen zu sehen. Die Menschen wurden gefoltert, weil sie regimekritische Graffiti an die Wand gesprüht hatten.

Mittlerweile lebt er mit seiner Familie im Libanon in einem Flüchtlingslager Bild: DW/A. Vohra

Mizyed hatte sich damals einer Gruppe angeschlossen, die ihren Stadtteil Baba Amr vor dem Regime beschützen wollten. Er versichert, er habe nie eine Waffe getragen oder auch nur angefasst. Er habe der damaligen Freien Syrischen Armee nur bei ihren humanitären Aktionen geholfen.

Dann erlebte auch Baba Amr die ersten Bombardements. Ein Schrapnell durchbohrte sein Auge, seither ist er fast blind. Auf dem Weg ins Krankenhaus stoppten zwei Soldaten den Wagen: "Wisst ihr nicht, dass es gefährlich ist, in Zeiten wie diesen auf der Straße herumzufahren?", sagten sie und lachten. Es war ihre Art, Witze über Verletzte zu machen.

Ein ewiger Albtraum

Dann haben sie ihn ins Saydnaya-Gefängnis gebracht, eines der Folterzentren des gefürchteten General Hassan. Es begann die Tortur: "Sie haben mir drei Mal am Tag Elektroschocks verpasst. Einmal ist dabei sogar mein Zehnagel rausgesprungen, so heftig war der Stoß", sagte Mizyed.

Dann, es war ein Freitag im Februar 2013, durfte er duschen und bekam neue Kleidung. Er spürte ein kurzes Gefühl der Erleichterung, denn er konnte sich den Geruch und das Gefühl der Folter vom Körper waschen. Selbst wenn sie ihn an diesem Tag töten würde, dachte er, habe er für einen Tag seinen Stolz zurückerlangt.

Er verstand zuerst nicht, warum sie ihn an diesem Tag haben gehenlassen. Aber all seine Qualen endeten abrupt. Später hat er erfahren, dass er wahrscheinlich Teil eines Gefangenenaustausch war, den der Ältestenrat in Homs mit dem Regime verhandelt hatte.

Mit vielen anderen Syrern haben er und seine Familie sich dann auf den Weg in den Libanon gemacht. Dort leben sie jetzt in einem Flüchtlingslager in der Bekaa Ebene. Fünf Jahre später sind seine Wunden zwar verheilt, aber die Narben noch klar zu erkennen. Mizyed sagt, sie hätten ihm seine Würde geraubt, derzeit müssten die meisten Täter noch nicht einmal einen Prozess fürchten. Russland und China haben im UN-Sicherheitsrat eine internationale Strafverfolgung syrischer Kriegsverbrecher verhindert.

Deutschlands Haftbefehl gegen Hassan

Deutschland lässt jetzt per internationalem Haftbefehl nach dem gefürchteten Jamil Hassan suchen. Für Mizyed ist das allerdings nicht mehr als eine Geste: "Sie werden nichts damit erreichen", sagt er. "Können sie nach Syrien gehen und Hassan oder Assad festnehmen?"

Er hat den Glauben daran verloren, dass irgendeiner der Verbrecher, die ihn und Tausende andere Syrer gefoltert haben, jemals bestraft werden. "Der Westen hätte dafür sorgen können, dass Assad nicht mehr in Syrien regiert, aber es war ihnen einfach egal", sagt er und drückt dabei seine Zigarette im Aschenbecher aus.

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