Die Geschichte des Urwalds
9. Oktober 2012 1409 - Symbiose zwischen Wald und Wisent
Alles beginnt damit, dass seine Majestät jagen kann. Schon Anfang des 15. Jahrhunderts bekommt der sogenannte "Dichte Wald" den Status als "hoheitliches Jagdgebiet" für die polnischen Könige. Denn: je unberührter der Wald, desto wohler fühlen sich die Tiere - und bleiben vor Ort. Vor allem die Wisente sind attraktiv für die adligen Jäger. Um möglichst viele der mannshohen Kolosse in ihrem Trophäenschrank zu haben, lassen sie das Abholzen der Bäume verbieten. So bleibt Bialowieza dank der Jagd über Jahrhunderte als großer urwaldähnlicher Wald erhalten - und die eng verwobene Geschichte zwischen Wisent und Wald beginnt.
1795 bis 1918 - Jagdgebiet wechselt seinen Besitzer
1795 teilen sich die europäischen Mächte Russland, Preußen und Österreich den polnischen Staat untereinander auf, Polen existiert nicht mehr. Seitdem haben die russischen Zaren das Sagen im Gebiet von Bialowieza. Auch sie hat das Jagdfieber gepackt, sie machen den Bialowieza-Wald zu ihrem Privatbesitz. Zar Nikolaus lässt sich ein Schloss in den Wald bauen, das später, nach dem Zweiten Weltkrieg, abgerissen werden wird. Im privaten Wald darf außer dem Zar niemand jagen - auf das Wildern der Wisente steht die Todesstrafe.
1857 - Wisent-Herde so groß wie nie
Der besondere Status des Waldes als Jagdgebiet garantiert seine Unversehrtheit. In dem intakten Wald wächst die Herde der Wisente - Jahr für Jahr. Im Jahr 1857 ist sie so groß wie nie: 1.900 Wisente leben im Wald von Bialowieza. In den Jahrzehnten danach werden die Bestände allerdings durch Krankheiten dezimiert: Im Herbst 1917 gibt es nur noch 150 Tiere.
1917/1918 - Jagdgebiet verliert an Bedeutung
Im Zuge des Ersten Weltkrieges wird das einst begehrte Jagdgebiet immer unbedeutender für die Zaren. Gleichzeitig bringt der Krieg deutsche Besatzer nach Bialowieza. Sie beginnen, den Wald großflächig abzuholzen, bauen Sägewerke und Bahnlinien für den Abtransport des Holzes nach Westen: insgesamt über 5 Millionen Kubikmeter Holz.
1919 - Das letzte Wisent wird erschossen
In den Wirren des Ersten Weltkrieges verlieren auch die Wisente an Bedeutung und damit ihren besonderen Schutz. Ein zuvor entlassener Forstbeamter erschießt 1919 den letzten Bullen in Bialowieza. Zur gleichen Zeit haben Naturforscher die Idee, den Wald um seiner selbst zu schützen: 1921 wird auf polnischer Seite ein 4500-Hektar-großes Schutzgebiet im Wald von Bialowieza errichtet.
1929 - Aufzucht einer neuen Wisent-Herde
Nach dem Ersten Weltkrieg, Polen ist inzwischen wieder ein souveräner Staat, kauft die Regierung vier Wisente aus europäischen Zoos und beginnt in einem speziellen Reservat mit der Nachzucht des “Königs der Wälder”. Alle heute in Bialowieza lebenden Wisente gehen auf diese Tiere zurück. Im selben Jahr wird ein Teil des schon existierenden Schutzgebiets zu einem besonders streng geschützen Bereich: Dieser Teil des Waldes wird jeglicher Nutzung durch den Menschen entzogen. Aus diesem Gebiet entsteht 1932 der erste Nationalpark Polens: der “Bialowieski Park Narodowy”. Über die Jahrzehnte dehnt sich der Nationalpark über das Schutzgebiet hinaus aus.
1941 - Deutsche Truppen besetzen Wald
Der Schutz hält jedoch nicht lange vor: Das Gebiet wird während des Zweiten Weltkrieges durch deutsche Truppen besetzt. Sie beuten das Gebiet wirtschaftlich stark aus. Es wird wieder ein bevorzugtes Jagdgebiet - vom Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring.
1944 - Ein Wald, der zu zwei Ländern gehört
Mit der Zurückdrängung der Deutschen und der Rückeroberung des Gebiets durch die sowjetische Armee wird der Wald von Bialowieza zwischen den Staaten Polen und Weißrussland aufgeteilt: Zwei Drittel des Waldes gehören seitdem zu Weißrussland, ein Drittel zu Polen. Auf polnischer Seite behält das Schutzgebiet seinen Status als “Nationalpark” - mit dem besonders streng geschützen Reservat in seinem Kern. In Weißrussland ist der Wald zuerst ein Naturschutzgebiet, ab 1991 wird die “Belovezhskaya Pushcha” ebenfalls ein Nationalpark.
1977/79 - Bialowieza wird Weltnaturerbe
Die UNESCO erklärt den polnischen Nationalpark zum Biosphärenreservat. Zwei Jahre später erhält der Wald von Bialowieza - auf polnischer und weißrussischer Seite - den Titel eines grenzüberschreitenden “Weltnaturerbes". Das Gebiet wird nach und nach vergrößert. Das ist für die Umweltschützer eine Selbstverständlichkeit, um die Biodiversität in dem Wald zu schützen. Für viele Anwohner bringt die Ausweitung des Schutzes aber Verbote und Auflagen mit sich.
2012 - In der Gegenwart angekommen
Durch den besonderen Schutz des Waldes während der vergangenen Jahrzehnte ist der Urwald zum Inbegriff von Biodiversität geworden. 20.000 Pflanzen- und Tierarten leben in dem 150.000 Hektar großen Wald. Darunter auch 900 wilde Wisente, eine Besonderheit in Europa. Das hat zur Folge, dass sich im Ort Bialowieza hochkarätige Wissenschaftsinstitute angesiedelt haben, zum Beispiel das Institut für Säugetierforschung der polnischen Akademie der Wissenschaften.