"Die gestohlene Revolution"
21. September 2011"Sie haben unsere Revolution gestohlen", sagt Fouad Ibrahim wütend. Bestens organisiert und mit Geldern aus Saudi Arabien und Katar ausgestattet, hätten die Muslimbrüder die Revolution der jungen Facebook-Generation an sich gerissen, erklärte der ägyptische Professor bei einer Pressekonferenz der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IFGM) in Köln. In den ersten Tagen der Revolution hätten Muslime und Christen gemeinsam auf dem Tahrir Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo gestanden und gegen Mubaraks Regime protestiert - der Gewalt der Schlägertruppen zum Trotz. In Schouba, einem gemischten Stadtteil in Kairo, hätten Muslime und Christen gemeinsam in den Straßen patrouilliert, bestätigt Kamal Kelliny, ein ägyptischer Student, der in Bonn lebt. "Wenn wir jemanden aufgegriffen haben, der geplündert hatte, dann haben wir die Sachen beschlagnahmt." Und aufgeteilt: Die eine Hälfte für die Moscheen in Schouba, die andere für die Kirchen.
Doch nur wenige Tage später hätten Muslimbrüder und andere radikalere Strömungen die Revolution an sich gerissen und die jungen Demonstranten und Christen weggedrängt. Das, sagt Ibrahim, habe die kurzlebige Hoffnung vieler Menschen zerstört, dass Christen mehr als nur Bürger zweiter Klasse werden könnten und die Revolution ein tolerantes, friedliches Ägypten hervorbringen werde.
Bürger zweiter Klasse
Schätzungsweise zehn Prozent der Ägypter sind Christen, die Mehrheit stellen die koptischen Christen. Sie fühlen sich benachteiligt in einem Land, dessen muslimischer Charakter in der Verfassung verankert ist. Koptische Gemeinden bräuchten spezielle Genehmigungen, um Kirchen zu bauen oder zu renovieren, erklärt Ibrahim. Wer einen christlichen Namen hat, findet schwer eine öffentliche Anstellung, etwa bei der Polizei oder in der Universität.
Es komme immer wieder zu Übergriffen, etwa auf koptische Mädchen ohne Kopftuch und zu Brandangriffen auf koptische Kirchen, sagt der Ägypter, der in Bayreuth lehrt. Anfang Mai wurden bei einem Anschlag durch radikale Salafisten auf die St. Mina-Kirche im Kairoer Stadtteil Imbaba zwölf Menschen getötet und 230 verletzt. Priester würden sich aus Angst vor Racheakten weigern, Konvertiten, die vom Islam zum Christentum übertreten zu taufen. "An vielen Orten werden Christen zu Freiwild", sagt Martin Lessenthin von der IGFM.
Seit dem Sturz Mubaraks wird Ägypten von einer militärischen Übergangsregierung mit Hilfe von Notstandsgesetzen regiert. Demonstranten, Regimegegner und kritische Blogger seien verhaftet worden. "Es herrscht keinerlei Rechtssicherheit", sagt Max Klingberg, Ägypten-Experte der IGFM. In der allgemeinen Unsicherheit gewähre der Militärrat auch den Christen keinen angemessenen Schutz und die Übergriffe gingen fast ungehindert weiter. Militär und Polizei würden oft nur sehr zögerlich und spät eingreifen, bestätigt auch Lessenthin.
Hass auf Christen
"Alles übertrieben", widerspricht Kamal Al-Helbawy: "Es gibt keine größeren Probleme zwischen Christen und Muslimen im Land", sagt der Sprecher der Muslimbrüder in Europa im Gespräch mit DW-WORLD.DE. Vielmehr würden die Zwischenfälle von ausländischen Medien übertrieben. Alle Ägypter würden unter der schwierigen Sicherheitslage leiden, nicht nur die Christen.
Das sieht Ibrahim anders: Spannungen zwischen Christen und Muslimen habe es schon immer gegeben. Doch in den späten 1970ern seien diese in regelrechten Hass umgeschlagen: "Nach der Revolution im Iran rollte eine islamistische Welle über die arabische Welt", und habe auch Ägypten erreicht. Ein Großteil der muslimischen Bevölkerung lehne seitdem ihre christlichen Mitbürger immer stärker ab. "Natürlich gibt es auch viele gemäßigte Stimmen, aber die kommen nicht immer zu Wort." 40 Prozent aller Ägypter seien Analphabeten und ließen sich leicht beeinflussen. Saudi-arabische Privatsender schürten den Hass gegen Christen gezielt, sagt Ibrahim, der als Kind noch zusammen mit vielen Muslimen in die Schule ging.
Leben in einer Parallelwelt
Heute leben viele Kopten in einer Parallelwelt: Der Student Kamal Kelliny erzählt von koptischen Eltern, die ihre Kinder auf getrennte Kindergärten und Schulen schicken. Sein ganzes Sozialleben habe sich in Ägypten in seiner kirchlichen Gemeinde abgespielt: "Schwimmbad, Campingausflüge, Kulturabende, einfach alles", sagt er. Vielleicht werde es nach den Wahlen besser, wohl eher nicht. Er zuckt mit den Schultern.
Im November 2011 sollen Parlamentswahlen stattfinden, im Anschluss dann die Präsidentschaftswahlen. Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Muslimbrüder gut abschneiden werden. Professor Ibrahim glaubt, dass die Muslimbrüder nicht weniger als 40 Prozent der Stimmen erhalten werden. Zusammen mit den radikaleren Gruppierungen, den Islamisten, den Salafisten und den Sufis, würden islamische Gruppen nach seinen Prognosen auf mindestens siebzig Prozent kommen. Und die Kopten? "Ich bin sehr pessimistisch." Denn die Militärregierung habe die Wahlkreise vergrößert. Er glaubt nicht, dass Christen in größeren, gemischten Kreisen gute Chancen haben.
Koptische Jugendliche gewaltbereit?
Diese Einschätzung hält der Muslimbruder Helabwy für übertrieben. 20, höchstens 25 Prozent würden die Muslimbrüder erreichen, sagt er. Er ist jedoch überzeugt, dass die neue Verfassung, die nach den Wahlen ausgearbeitet wird, an dem islamischen Charakter des Landes festhalten wird. "Natürlich werden wir an dem Artikel festhalten, der Ägypten als muslimisches Land festlegt", sagt Helbawy. Denn: "Wir sind ein Land, in dem zu über 90 Prozent Muslime wohnen." Aber natürlich hätten Christen ihren Platz im Land, fügt er hinzu.
Davon sind nicht alle Kopten überzeugt: Anba Damian, der Generalbischof der koptischen Kirche im deutschsprachigen Europa, zeigt sich beunruhigt: Junge Kopten seien nicht mehr bereit, die Diskriminierung widerstandslos hinzunehmen. Er präsentiert ein unscharfes Foto von jungen Kopten, die um drei Särge stehen und wütend Holzkreuze in die Kamera zeigen. Noch hätten koptische Anführer die Jungen unter Kontrolle. Doch wie lange noch - das wisse er nicht.
Autorin: Naomi Conrad
Redaktion: Susanne Eickenfonder