'Moralische Standards steigen'
3. Juni 2008DW-WORLD.DE: Wird im neuen Jahrtausend und in der globalisierten Wirtschaftswelt mit harten Bandagen gekämpft, wie man es nie zuvor gesehen hat?
Hans-Olaf Henkel: Das kann ich so nicht erkennen. Die Globalisierung kann man nicht dafür verantwortlich machen. Eher im Gegenteil sorgt diese dafür, dass einheitliche Standards in der Welt durchgesetzt werden. Mit Sicherheit ist das Gefühl berechtigt, dass heute mehr passiert. Aber mein Eindruck ist, dass das vor allem daran liegt, dass erstens die Ansprüche größer geworden sind - d.h. die Ansprüche an die Moral sind gestiegen. Und zweitens kommt mehr heraus. Und das führt zu diesem subjektiven Eindruck, es sei alles viel schlimmer als früher.
Wo liegen die Unterschiede zu früheren Zeiten?
Früher war die Bestechung von ausländischen Firmen nicht nur gar nicht verboten, sondern man konnte das sogar von der Steuer absetzen. Erst seit dem Jahr 1999 ist das verboten. Und zwar auf OECD-weiter Basis. Hier können Sie eigentlich gut erkennen, was ich meine: Man hat einen neuen Standard geschaffen, den es vor der Globalisierung gar nicht gab.
Der zweite Punkt ist: Es kommt mehr heraus. Die Presse ist heute viel aggressiver und das ist richtig so. Auch die Mitarbeiter haben heute ein größeres Selbstvertrauen und bringen Fehlverhalten des Top-Managements öfter an die Öffentlichkeit als früher.
Sie sind seit vielen Jahrzehnten aktiv im internationalen Wirtschaftsleben. Welche Beispiele aus den 70ern und 80ern lassen sich vergleichen mit den Skandalen, die wir bei VW, Siemens und der Telekom gesehen haben?
Das fällt mir im Augenblick schwer. Sicher können Menschen, die da etwas recherchieren, ähnliche Beispiele finden. Aber das würde auch nicht viel sagen. Meine These ist die, dass solche Sachen früher gar nicht herausgekommen sind. Nehmen Sie den Insider-Handel mit Aktien: das war in Deutschland bis vor nicht allzu langer Zeit nicht einmal verboten - und nach meiner Einschätzung vor dem Verbot durchaus üblich. Und erst nach dem Verbot gab es dann Insider-Fälle, die bekannt wurden. Übrigens: Der erste prominente Fall, war der des damaligen IG-Metallvorsitzenden Steinkühler, der Insider-Wissen der Firma Daimler-Benz benutzt hatte, um sich selbst zu bereichern und deshalb seinen Hut nehmen musste. Und dieser Fall Steinkühler - interessanterweise ein Gewerkschaftsboss - führte dann unmittelbar zu einer deutschen Gesetzesänderung.
Also auch hier sehen Sie, dass eine Praxis, die früher gang und gäbe war, zweifelhaft wurde. Und deshalb kann man schlecht behaupten, dass nun das sicherlich eingegrenzte Volumen von Insider-Handel - was übrigens früher auch schon moralisch anrüchig war - dazu als Beweis herhalten muss, dass heute alles schlimmer geworden ist. Nein! Die Ansprüche sind höher geworden und es kommt mehr heraus - ich bleibe dabei.
Führt die Globalisierung zu einem höheren Druck auf Manager, in immer kürzerer Zeit exzellente Unternehmensergebnisse vorzulegen und deshalb auch schon mal über die Grenzen des Erlaubten hinauszugehen?
Das streite ich ab. Die Globalisierung führt vielmehr dazu, weltweite Standards einzuführen. Die Globalisierung bringt natürlich neue Konkurrenten in Stellung gegenüber Unternehmen, die vielleicht früher ein einfacheres Spiel hatten. Aber auf der anderen Seite bringt sie ja auch neue Märkte. Mein Eindruck ist ganz anders: In der Globalisierung setzen sich auch gerade Werte und Wertvorstellungen durch. Denn sie ist ja mehr als nur der Transport von Waren oder Geldströmen oder Investitionen. Sondern in der Globalisierung gehen auch Ideen, Werte und Vorstellungen von Werten um die Welt. Und diese Globalisierung nun dafür verantwortlich zu machen, halte ich für absurd.
Wollen wir denn auf nationale Märkte zurück? Wollen wir Mauern hochziehen? Wollen wir uns alle vor den ausländischen Konkurrenten abschotten? Das führt nach meiner Meinung nicht nur zu einem wirtschaftlichen Rückschritt, sondern auch zu einem moralischen Rückschritt. Sicherlich gibt es diese Fälle wie Enron, aber sie führen zu einer weltweiten Diskussion um das, was richtig oder falsch ist und führen zu neuen, meist höheren Standards - moralischen, aber auch gesetzlichen Standards.
Also muss man genau das Gegenteil sagen: Die Globalisierung sorgt dafür, dass letzten Endes diese besseren Standards überall durchgesetzt werden.
Was kann gegen die schwarzen Schafe unternommen werden, die zumindest für den gefühlten moralischen Verfall in Unternehmen verantwortlich zeichnen?
Ich habe in meiner Zeit beim BDI einen Antikorruptionsleitfaden mitentwickelt, der kostenlos an die Mitglieder verteilt wurde. Dieser Leitfaden hat sicherlich dazu beigetragen, dass in der deutschen Industrie relativ wenig passiert ist. Es hat immer noch Auswüchse gegeben. Besonders bedauerlich finde ich das, was bei Volkswagen passiert ist. Zumal der verantwortliche Unternehmens-Chef zehn Jahre an der Spitze des Unternehmens war, das alles angeblich nicht mitbekommen haben wollte - und der heute der Aufsichtsratsvorsitzende ist (Ferdinand K. Piëch, Anm. d. Red.). Das ist so ein eklatantes Beispiel für das Versagen von Corporate Governance. Aber es sind die Ausnahmen.
Lesen Sie weiter: Warum Wirtschaft einem Fußballspiel gleicht und die Regeln ständig überprüft werden müssen.
Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Die Ethik des Erfolgs. Spielregeln für die globalisierte Gesellschaft". Dort steht: "Der Kern der modernen Ethik muss die Freiheit sein: die Freiheit des Einzelnen, am globalen Spiel teilnehmen und sich aktiv verwirklichen zu können, und zwar nicht nur zum eigenen, sondern zum Nutzen aller." Wenn man noch einmal auf die Unternehmen Enron und Worldcom in den freiheitsliebenden USA, auf Parmalat in Italien, sowie auf VW, Siemens und die Deutsche Telekom in der gleichfalls freiheitlichen Bundesrepublik blickt, scheint Freiheit in Unternehmen mitunter radikal missbraucht zu werden. Bleiben Sie bei Ihrer Forderung?
Ja, mit einer kleinen Einschränkung. Erstmal eine philosophische Einschränkung: Die Freiheit sollte soweit gehen können, wie ein Individuum sie ausüben will; aber nie soweit, dass sie die Freiheit eines anderen belastet. Das ist die natürliche Grenze der Freiheit. Und das zweite, worauf ich Wert lege: Natürlich braucht eine Marktwirtschaft Regeln. Und ich kenne niemanden, der für eine ungeregelte freie Marktwirtschaft ist. Das, was die Lafontaines dieser Welt immer als Neoliberalismus hinstellen, gibt es ja gar nicht. Und das wollen wir auch gar nicht. Eine Marktwirtschaft braucht Regeln, so ähnlich wie ein Fußballspiel Regeln braucht. Da können Sie auch nicht auf der einen Seite mit elf und auf der anderen Seite mit 14 Spielern antreten. Und wenn man Regeln hat - und die gibt es in der Marktwirtschaft -, dann muss man dafür sorgen, dass der Verstoß gegen Regeln disziplinarische Konsequenzen hat. Auch wie beim Fußball: also ein Freistoß, ein Strafstoß, eine rote Karte, eine gelbe Karte. Das gibt es auch in der Wirtschaft. Eine ungeregelte Marktwirtschaft macht keinen Sinn.
Reichen die Regeln aus, die wir heute haben?
Da die Entwicklung der Marktwirtschaft ein dynamischer Prozess ist, muss man sich überlegen, ob die derzeitigen Regeln angemessen sind. Hier nenne ich drei Themen, über die man derzeit zu Recht diskutiert: Das erste ist das Finanzsystem, was sich gehörig blamiert hat - Stichwort: Subprime. Das Finanzsystem ist sicher kein "Monster", wie Herr (Bundespräsident Horst) Köhler das meint, aber besonders Vertrauen erweckend ging es dort in den vergangenen zwei bis drei Jahren nicht zu. Ich kann mir vorstellen, dass hier eine öffentliche Institution dafür sorgen sollte, dass man Ratings hat, die einigermaßen objektiv sind.
Der zweite Punkt ist die teilweise nicht nachzuvollziehende Bezahlung von Vorständen und Vorstandsvorsitzenden. Da frage ich mich auch manchmal, ob die Transparenz genügt, die wir jetzt eingeführt haben. Vielleicht sollte ja die Hauptversammlung das Recht erhalten, über die Bezahlung zu entscheiden.
Das dritte hängt mit den Kartellen zusammen: In der Globalisierung genügen nationale oder europäische Kartellbehörden nicht. Wir brauchen eine internationale Kartellbehörde. Das ist eine logische Folge der Globalisierung. Da ist der Handlungsbedarf offensichtlich.
Transparency International hat für den Globalen Korruptionsindex 2007 mehr als 60.000 Menschen aus 60 Ländern befragt, ob ihrer Meinung nach die Korruption in den nächsten drei Jahren zunehmen, abnehmen oder unverändert bleiben wird. 54 Prozent meinten, die Korruption werde zunehmen, nur ein Fünftel glaubt, sie werde abnehmen. Was sagen Sie?
Ich halte das für überzogen. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass die moralischen Ansprüche gestiegen sind. Wenn bei gleicher Praxis die moralischen Ansprüche steigen, führt das zu mehr - sagen wir mal - Unfällen. Das ist ganz logisch. Es kommt, wie gesagt, auch immer mehr heraus. Das wird dazu führen, dass immer mehr Unternehmen, diese Praktiken einstellen. Siemens ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Man kann wirklich davon ausgehen, dass das, was dort vielleicht flächendeckend passiert ist - unter Umständen sogar ohne Wissen einiger Vorstände oder des Vorstandsvorsitzenden - in Zukunft dort nicht mehr passieren wird.
Ich habe selbst erlebt, dass das Beispiel Siemens dazu führt, dass alle deutschen großen Unternehmen jetzt ihre eigenen Praktiken überprüfen. Ich bin auch in einigen Aufsichtsräten, bei einem auch im Prüfungsausschuss. Wir haben in einigen dieser Aufsichtsräte das Thema Siemens zum Anlass genommen, selbst im Unternehmen zu gucken, was ist los beim Thema Beraterverträge. Ich habe aufgrund des Volkswagen-Skandals in einigen Aufsichtsräten die Frage gestellt, ob es denn möglich ist, dass die Betriebsräte dort auch so verwöhnt wurden. In beiden Fällen habe ich eine überzeugende und Gott sei Dank negative Antwort bekommen.
Ich will damit sagen, dass die berechtigte Empörung über diese Praktiken, die vor 20 Jahren überall üblich waren, letzten Endes dazu führt, dass weniger passiert und nicht mehr. Dass der subjektive Eindruck durch diese Skandale geschürt wird und teilweise berechtigt ist, will ich gar nicht in Zweifel ziehen. Aber ich bin da optimistisch.
Hans-Olaf Henkel (Jahrgang 1940) war Chef von IBM in Deutschland und Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Henkel ist heute Honorar-Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Mannheim, sitzt im Aufsichtsrat unter anderem von Bayer und Conti, ist Leiter des Beirats der Bank of America und schreibt Bücher.