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Politik

Demütigung in Mariupol: "Filtrationslager" und Flucht

28. April 2022

Die russischen Besatzer im Donbass überprüfen und sortieren die Bevölkerung ideologisch in sogenannten Filtrationslagern. Evakuierte Menschen aus Mariupol haben der DW ihre Geschichte erzählt.

Ukraine Krieg | Donezk
Zerstörte Wohnhäuser in MariupolBild: Sergei Bobylev/ITAR-TASS/IMAGO

Wegen des ständigen Beschusses durch russisches Militär mussten sich im belagerten Mariupol tausende Menschen seit Kriegsbeginn in Kellern verstecken. Inzwischen ist die Stadt nach Angaben aus Kiew zu 95 Prozent zerstört. Die DW konnte drei Einwohner von Mariupol kontaktieren, die sich gegenseitig nicht kennen. Ihnen war es gelungen, die Stadt im Donbass zu verlassen. Doch sie mussten die vom russischen Militär organisierten sogenannten Filtrationslager durchlaufen - Lager, in denen sie ideologisch überprüft werden, bevor sie in die Russische Föderation deportiert werden.

Solche Lager hatte erstmals die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg eingerichtet, um unter heimkehrenden Soldaten mutmaßliche "Verräter" aufzuspüren. Der Berater des Bürgermeisters von Mariupol, Petro Andrjuschtschenko, sagte im ukrainischen Rundfunk, dass es jetzt rund um die Stadt vier solcher Lager gebe. Die Namen der Gesprächspartner der DW wurden aus Sicherheitsgründen geändert.

"Schreib, was man Dir sagt, und stell keine Fragen"

Dmitrij, 31 Jahre alt, verließ Mariupol am 21. März mit seiner Frau und seinem Baby.

"In den ersten Tagen des Krieges fiel das Telefonnetz aus und wir hatten keine Informationen mehr. Ab dem 8. März saßen wir im Keller und um den 15. März tauchten feindliche Soldaten in unserem Haus auf. Sie sagten, dass eine Evakuierung in die sogenannte 'Volksrepublik Donezk' möglich sei. Doch diese Evakuierung war ziemlich eigenartig: Die Menschen flohen unter Beschuss, es herrschte völliges Chaos. Schließlich ging es zu Fuß rund acht Kilometer zum Checkpoint und nach vier Stunden passierten wir endlich die Kontrolle. Alle Männer mussten ihren Oberkörper freimachen, kontrolliert wurden Dokumente und Gegenstände.

Tschetschenische Kämpfer in MariupolBild: Chingis Kondarov/REUTERS

Dann wurden wir per Bus in eine Schule in Nowoasowsk gebracht. Drei Tage danach sollten wir zwangsweise irgendwohin zur Filtration und dann nach Russland gebracht werden, was wir definitiv nicht wollten. 

Zwei Wochen später erfuhren wir von Freunden, dass man die Überprüfung im Dorf Besymjannoje allein erledigen können sollte. Sie verlief dort in drei Etappen. Im ersten Zelt verlangte ein Soldat von mir, dass ich mich bis auf die Unterhose ausziehe. Er schaute nach Tattoos und Waffen. Dann nahm er mir das Telefon weg und prüfte alle Kontakte und Fotos. Er fragte: 'Wo hast Du gelebt und gearbeitet? Kennst Du jemanden aus dem Asow-Regiment? Was denkst Du über die Politik Russlands und der Ukraine?' Im zweiten Zelt wurden mir erneut das Telefon sowie Fingerabdrücke abgenommen und Fotos gemacht.

Am unangenehmsten war die letzte Etappe im dritten Zelt. Ein Soldat sagte, ich solle eine Erklärung nach einer Vorlage verfassen. Darin stand, mir sei irgendein Artikel der Verfassung der sogenannten 'Volksrepublik Donezk' bekannt. Als ich nach dem Inhalt des Artikels fragte, hieß es: 'Schreib, was man Dir diktiert, und stelle keine unnötigen Fragen.' Dann wurde ich nach meinem Arbeitsplatz und meiner Haltung zu Russland gefragt und ob ich Bekannte in der ukrainischen Armee hätte. Meine Antworten schrieb ich in der Erklärung nieder.

Alles verlief reibungslos, vielleicht weil ich 'richtig' geantwortet habe. Denn ich hörte Schreie und Beleidigungen gegen Männer, die fragten, warum Russland einmarschiert sei, ihre Häuser und ihr Leben zerstört habe. Ich bekam schließlich ein Stück Papier, mit dem die absolvierte Filtration bestätigt wurde. Damit konnte ich mich auf dem Territorium der sogenannten 'Volksrepublik Donezk' aufhalten und nach Russland einreisen.

Ein Papier, das die Absolvierung der Filtration bestätigtBild: privat

Letztendlich brachte uns ein privater Fahrer von Donezk über Russland nach Polen. An der russischen Grenze sah ich Broschüren mit der Aufschrift: 'Der Ferne Osten Russlands wartet auf Dich.' Von Leuten hörte ich, wer das Angebot annehme, bekomme 10.000 Rubel (rund 300 Euro) und irgendeinen Job. Jetzt sind wir in Polen und wollen weiter zu Freunden nach Österreich."

"Ich hatte große Angst, dass sie mich nicht ausreisen lassen würden"

Anna, Fernsehjournalistin, verließ Mariupol am 24. März mit ihrem Mann und ihrem Kind.

"Nach Tagen im Keller beschlossen wir am 24. März herauszufinden, wie wir flüchten könnten. Wir trafen auf einen Soldaten mit weißer Armschleife, der sagte, wo die Evakuierungsstelle sei. Ein Bus brachte uns von dort nach Wolodarsk und weiter nach Donezk, wo wir in einer Schule untergebracht wurden. Mein Mann musste sich ausziehen, es wurde nach Tattoos und Waffen gesucht. Er musste seinen Arbeitsplatz angeben und ob er gegen Russland sei.

Ich wurde gefragt, ob der Direktor meines Fernsehsenders pro-ukrainische Ansichten vertrete und ob er uns dazu zwinge, schlecht über Russland zu berichten. Ich musste die Nummern aller meiner Arbeitskollegen nennen, meine politische Haltung erklären, in welcher Sprache ich die Sendungen moderierte und welche Sprache meine Gäste sprachen.

Als ich schon etwa eine Stunde in Richtung russische Grenze unterwegs war, holten dieselben Militärs mich erneut aus dem Bus. Ich hatte große Angst, dass sie mich nicht ausreisen lassen würden. Sie stellten mir dann noch mal Fragen zu meinen Bekannten und kopierten alle meine Kontakte.

Von der russischen Grenze brachte uns ein weiterer Bus nach Taganrog, wo uns gesagt wurde, wir könnten hinfahren, wohin wir wollten, wenn wir eine Unterkunft hätten. Da mein Mann dringend Medikamente braucht, die es in Russland nicht gibt, brachen wir nach Europa auf."

"In mir kommt Hass hoch, für den ich mich schäme"

Die 67-jährige Warwara verbrachte mehr als einen Monat unter Beschuss in Mariupol. Am 25. März verließ sie zusammen mit ihrem Mann die Stadt.

"Mein Mann und ich haben 40 Jahre lang gespart, um ein würdiges Leben im Alter zu haben. Jetzt ist alles verloren.

Am 25. März tauchten russische Soldaten in der Nähe unseres Hauses auf, wo wir uns in einem Luftschutzbunker versteckten. Sie sagten: 'Wenn ihr nicht in zehn Minuten herauskommt, dann werfen wir eine Granate und sprengen euch in die Luft.' Sie schickten uns zur Kirche. Dort kontrollierten Uniformierte unsere Pässe und brachten uns in das Dorf Berdjanskoje. Die Frauen wurden nicht untersucht, während bei den Männern Schultern, Arme, Beine und Rücken geprüft wurden. 

Ein Bus brachte uns in das Dorf Besymjannoje, in eine Schule. Wir bekamen Essen, mussten aber auf dem Boden schlafen. Am Morgen schaffte uns ein Bus in die Stadt Tores, wo unsere Fingerabdrücke und Körpermaße genommen, unsere Pässe kopiert und unsere Telefone überprüft wurden. Die Bewaffneten machten uns Angst.

Sie führten uns zur Polizeiwache, wo mehrere Personen mich verhörten. Sie fragten nach Arbeitsplatz und Wohnort und wo ich gerne leben wolle. Ich sagte: 'In der Ukraine.' Sie lachten: 'Ein solches Land wird es nicht mehr geben.' Wie ich später von anderen Leuten erfuhr, kann man einen Antrag stellen, in Russland zu leben. Dann bekommt man 10.000 Rubel. Aber man darf Russland danach angeblich zehn Jahre lang nicht verlassen.

Ein Bergarbeiter brachte uns zurück nach Besymjannoje, wo unser Neffe war, und mit dem fuhren wir dann über die russische Grenze nach Rostow. Da haben uns Freiwillige in Empfang genommen, dank derer wir uns waschen und umziehen konnten. Wir reisten weiter mit der Bahn nach Belarus, um von dort wieder in die Ukraine zu gelangen. Bei unserer Ankunft in Minsk holten uns Bekannte ab und brachten uns zur ukrainischen Grenze.

Was Russland getan hat, kann ich weder begreifen noch vergeben oder vergessen. Vor dem Krieg war ich Russland gegenüber loyal, aber jetzt kommt in mir Hass hoch, für den ich mich sogar schäme. In Mariupol ist die 88-jährige Schwester meines Mannes umgekommen. Sie hatte gesagt, dass selbst die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Stadt nicht so bombardiert hätten."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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