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Die große Katastrophe

1. September 2009

Als Adolf Hitler am 1. September 1939 den Kriegsbeginn verkündet, ahnt niemand, dass er damit den brutalsten und folgenreichsten Krieg der Menschheitsgeschichte entfesseln würde: den Zweiten Weltkrieg.

Reichskanzler Adolf Hitler vor dem Deutschen Reichstag in Berlin (Foto: dpa)
"Seit 5:45 Uhr wird zurückgeschossen!"Bild: picture-alliance / dpa

In den kommenden fast sechs Jahren bis zur Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 wird der Kontinent zwischen Sizilien und Spitzbergen zwischen dem Atlantik und dem Ural verwüstet. Rund 100 Millionen Menschen werden Opfer des Zweiten Weltkriegs: ermordet, auf den Schlachtfeldern umgekommen, verhungert, verwaist, obdachlos, versehrt und verschleppt. Ein ganzer Kontinent versinkt nach dieser Entfesselung des Bösen in ein Trauma.

Kollektives Gedächtnis

Norman Davies, emeritierter Professor der London UniversityBild: Picture-Alliance / Photoshot

Das Ausmaß des Schreckens sorgt auch 70 Jahre später noch dafür, dass sich Historiker neben der reinen Faktenvermittlung darum bemühen, Erklärungen für das Geschehen zu finden. Zudem geht es auch um das "kollektive Gedächtnis", also um das, was die Menschen als Wissen von der Vergangenheit des eigenen Volkes gespeichert haben. Der britische Historiker Norman Davies hat in seinem jetzt im Droemer-Verlag erschienenen Buch "Die große Katastrophe – Europa im Krieg“ den Stand der Erforschung des Zweiten Weltkriegs kompetent zusammengetragen. Darin beschäftigt sich Davies gezielt mit dem kollektiven Gedächtnis, das nicht nur Wissensspeicher, sondern auch Kompass für zukünftiges Verhalten ist.

Europäisches Geschichtsbewusstsein

Es geht Davies aber mehr um die eigenen Erinnerungen an den Krieg. Ebenso interessiert ihn das Wissen um das Leid der anderen am Krieg beteiligten Völker und um den Versuch, die historischen Erfahrungen aller Beteiligten zusammenzubringen. Ein Vorgang, der auch in der deutschen Historikerzunft aufhorchen lässt.

Militärhistoriker Rolf Dieter MüllerBild: picture-alliance/ ZB

Für Rolf Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam ein Ziel, das noch nicht erreicht ist. Denn für ihn sei "ein gemeinsames europäischen Bewußtsein etwas, was erst sehr langsam entsteht". Das habe für die deutsch-französische Aussöhnung ebenso gegolten, wie für die "Bemühungen in den 1980er Jahren um eine Aussöhnung mit den Völkern der Sowjetunion."

Zweifellos ist es den mitteleuropäischen Völkern inzwischen gelungen, eine tragfähige Aussöhnung zu gestalten. Dennoch finden sich im europäischen Geschichtsbewusstsein anscheindend gesicherte Fakten, die einer Überprüfung nicht standhalten.

Die Last des Krieges

Es ist Allgemeinwissen, dass die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Grenze zur Sowjetunion überschritten und damit den Krieg auch gegen die Sowjetunion begonnen hat. Die Hauptlast mit etwa 27 Millionen Toten haben demzufolge "die Russen zu tragen gehabt". Mit der Öffnung des Ostblocks und der wiedererlangten Freiheit einiger ostmitteleuropäischer Staaten haben viele Westeuropäer aber erfahren, dass sich die aus dem sowjetischen Imperium entlassenen Völker Ost- und Mitteleuropas nicht nur als Opfer Hitlers, sondern auch als Opfer Stalins begreifen.

Am 24. August 1939 unterzeichnen der deutsche Außenminister J. v. Ribbentrop (l) und der sowjetische Außenminister W. Molotow (vorn) im Kreml den "Hitler-Stalin-Pakt". Für Polen und die baltischen Staaten symbolisiert dieser Tag auch 70 Jahre danach ein nationales Trauma. Das Bündnis zwischen den beiden mächtigen Nachbarn Polens steht im kollektiven Bewußtsein für die "vierte Teilung" des Landes (nach 1772, 1793 und 1795)Bild: picture alliance / dpa

Diesen Teil des Kontinents hatten sich die beiden Dikatoren Hitler und Stalin untereinander aufgeteilt und das im so genannten "Hitler-Stalin-Pakt" im August 1939 schriftlich fixiert. Die baltischen Staaten, Weißrussland oder die Ukraine waren 1941, als die deutsche Wehrmacht die "sowjetische Grenze" überschritt, sowjetisch besetztes Gebiet. Deshalb - so der Historiker Müller - hat der Krieg aus dem "Blickwinkel der heute Verbündeten und Freunde in der EU ein anderes Gesicht als wir es selber vor Augen haben und in unseren Schulbüchern transportieren."

Trotzdem hat es etwa 27 Millionen Opfer in der Sowjetunion gegeben. Darin aber sind auch jene enthalten, die dem stalinistischen Terror zum Opfer gefallen sind und jene, die auf unmenschliche Weise ihrer Heimat beraubt und zwangsweise ans andere Ende der Sowjetunion umgesiedelt wurden.

Folgen des Krieges

Norman Davies führt in seinem Buch viele Beispiele für Kriegsverbrechen an, deren Urheber auf allen Seiten des Krieges zu finden sind. Für ihn gibt es aber keine "Äquidistanz des Bösen", sondern beiderseitige Verstöße gegen das, was man unter dem Begriff Menschlichkeit zusammenfassen kann. Neben dem Holocaust und der Vertreibung vieler Millionen Menschen sind die Teilung Deutschlands und die Spaltung des europäischen Kontinents die nachhaltigsten Folgen des Zweiten Weltkriegs gewesen.

Winston Churchill (brit. Premierminister), Harry S. Truman (US-Präsident) und Stalin bei der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945. In Potsdam wurde die Westverschiebung der Sowjetunion auf Kosten Polens und die Westverschiebung Polens auf Kosten Deutschlands ebenso beschlossen wie die als "geordneter und humaner Transfer" bezeichnete Vertreibung von etwa 12 Millionen Menschen.Bild: picture-alliance/akg-images

Für Davies ist die Politik der Westalliierten während des Krieges gegenüber Stalin dafür verantwortlich, dass es nach 1945 zur Spaltung des Kontinents kam. Sie hätten das Vordringen des sowjetischen Einflusses in Kauf genommen, um den gemeinsamen Feind - das nationalsozialistische Deutschland - niederzuringen. Stalin habe, fügt Müller hinzu, seit 1939 das Denken in Einflusszonen eingeführt und anschließend die europäische Landkarte nach eben solchen Zonen ein- und damit aufgeteilt.

Rolf Dieter Müller sieht darin die eigentliche Tragik der Nachkriegszeit, denn die davon betroffenen Völker des Baltikums - die Ukrainer, Weißrussen und Polen - können mit Recht behaupten, die westlichen Allierten hätten sie im Stich gelassen.

Das Verdienst des Buchs von Norman Davies liegt nicht darin, dass er unbekannte Dokumente veröffentlicht oder neue Interpretationen liefert. Er trägt das bekannte historische Wissen kompetent zusammen und ordnet es unter dem Aspekt eines ganzheitlichen historischen Wissens. Dabei stellt sich heraus, das auch 70 Jahre nach seinem Beginn der Zweite Weltkrieg und vor allem seine Folgen für Europa genügend Anlass bieten, die eigene Erinnerung, das eigene Wissen zu überprüfen und um die Sichtweise der anderen zu erweitern.

Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Nicole Scherschun / Andreas Ziemons

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