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Die große Narbe der Geschichte

Rupert Wiederwald, Washington DC16. Februar 2004

Das Vietnam War Memorial gehört zu Washington DC wie das Weiße Haus und das Capitol. Am Ehrenmal für die Gefallenen und Vermissten des Vietnam-Krieges zeigt sich der Umgang der USA mit ihrem umstrittensten Krieg.

John Anthony Dabonka - Stein 14E, Reihe 17 und Helder Arthur C. da Silva – Stein 5 E, Reihe 16. Nur zwei von 58.191 Namen, die dem Vietnamkrieg ein Gesicht geben sollen. Das Vietnam War Memorial ist wie ein grüner Grabhügel, aus dem ein großer Teil herausgeschnitten wurde. Die offene Wunde wurde anschließend mit schwarzem Marmor verkleidet. Die Wände des Ehrenmals schmiegen sich wie ein riesiges V senkrecht an die Erde. Die 58.191 Namen der gefallenen und vermissten Soldaten sind in den Marmor eingraviert. So hat es die Architektin Maya Lin vorgesehen. Das Ehrenmal soll ein Spiegel sein für den Umgang der Gesellschaft mit dem Vietnam-Krieg.

Die Wunde Vietnam

Vietnam ist die große Narbe im amerikanischen Bewusstsein, die bis heute sichtbar ist. Die USA haben Kriege geführt, die sie mehr Opfer gekostet haben, aber kein Krieg war so umstritten. Damals wollten viele Buerger einfach nicht mehr nachvollziehen, warum die amerikanische Freiheit gerade in Vietnam unter dem Einsatz von Napalm und gegen vietnamesische Bauern verteidigt werden musste. Und wieso so viele eigene Soldaten deshalb sterben mussten. Vietnam ist heute immer noch wichtig, man kann damit politische Debatten beginnen oder blockieren. Der Demokrat John Kerry versucht Präsident zu werden, mit dem Hinweis auf seine Zeit in Vietnam. Vietnam ist ein amerikanisches Trauma.

Briefe an die Gefallenen

Viele Menschen, die zum Ehrenmal kommen, lassen Dinge zurück. Flaggen, Kompanieabzeichen, Fotos und Briefe. Vor allem Briefe. An diesem Tag haben Kinder der West Covina Christian School aus Kalifornien ihre Briefe am Vietnam War Memorial niedergelegt. Die Kinder haben den gefallenen Veteranen geschrieben. Es sind weniger Briefe als Karten. Verziert mit einem Lorbeerkranz und eingeschweißt, um die Karten vor dem Regen zu schützen, lehnen sie an den schwarzen Marmorwänden. Eine Karte an jeder Wand. Wenn das Denkmal ein Spiegel für die Gesellschaft ist, dann sind die Briefe ein Spiegel für die Art wie das Thema Vietnam zukünftigen Generationen nahe gebracht wird.

Lagerhalle für 65.000 Objekte

Die meisten Briefe beginnen mit Danksagungen. Matthew etwa dankt den Veteranen dafür, dass er in Freiheit leben kann. Diese Meinung scheinen viele seiner Mitschüler zu teilen – seine Lehrer vermutlich auch. Andere huldigen dem Mut der Gefallenen, dieses "grossartige Land gegen seine Feinde überall auf der Welt" verteidigt zu haben. Nicht auszudenken, was hätte geschehen können, wenn sie nicht erfolgreich gewesen wären. Der Schüler Eric etwa befürchtet, Amerika hätte sonst das Schicksal "Deutschlands oder wer weiß von wem“ teilen müssen. Was er damit meint, schreibt er nicht. Und eine Catelyn bedankt sich für das großartige Werk, dass die Veteranen vollbracht hätten, denn ohne sie hätte sie ihren Brief nicht in Englisch schreiben können. Ob sie das so in der Schule gelernt hat? Haben ihre Lehrer ihr das erklärt? Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit stehen für eine Samantha an oberster Stelle der Dinge, für die sie den Gefallenen danke möchte. Sie bedeuten nämlich eine Menge für sie, schreibt sie. Außerdem dankt sie den Veteranen für all die erstaunlichen Dinge, die sie geleistet hätten. Wahrscheinlich meint sie nicht die chemische Entlaubung kompletter Waldgebiete. Man kann nur hoffen, dass die Kinder keine Noten für ihre Briefe bekommen haben. Jeden Abend werden die Briefe und Mitbringsel am Ehrenmal eingesammelt und in ein Lager nach Maryland gebracht. Dort lagern inzwischen mehr als 65.000 Objekte, einige davon werden im National Museum for American History ausgestellt. Die meisten allerdings bleiben im Lager.