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Die großen Krisen der Merkel-Ära

Peter Hille | Gianna-Carina Grün
16. September 2021

Welche politischen Themen haben Deutschland in den Merkel-Jahren seit 2005 umgetrieben - Klima, Migration, Finanzen? Eine DW-Analyse der Debatten im Bundestag zeigt: eine Herausforderung folgte der nächsten.

Deutschland Bundestag
Angela Merkel spricht im Bundestag - mit welchen Themen hat sich das Parlament in den Jahren ihrer Kanzlerschaft befasst?Bild: Reuters/H. Hanschke

Coronavirus. Dieses Wort fiel im Deutschen Bundestag zum ersten Mal am Nachmittag des 12. Februar 2020. "Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der von China ausgehende Ausbruch des Coronavirus hat inzwischen weltweite Auswirkungen." So begann Gesundheitsminister Jens Spahn seine Rede vor den Abgeordneten.

Aus wenigen COVID-Fällen ist seitdem eine Pandemie geworden, allein in Deutschland sind mehr als 90.000 Menschen an oder mit dem Virus gestorben. Im Bundestag stritten die Abgeordneten um Schutzmasken und die Impfreihenfolge, um Lockdowns und Lockerungen. Und immer wieder fiel dabei dieses Wort: Corona. 

Wie oft genau? Das lässt sich in den Bundestags-Protokollen nachzählen. Bis zum Ende der 19. Legislaturperiode im Juni 2021 sprachen die Abgeordneten mehr als 10.000 Mal über das Virus, am häufigsten in der Parlamentsdebatte am 14. Mai 2020 als es um das Infektionsschutzgesetz und finanzielle Hilfsmaßnahmen ging. Die Pandemie ist zu einem der beherrschenden politischen Themen geworden. Es ist die letzte große Krise der Ära Merkel.

Die Plenarprotokolle des Bundestages dokumentieren: vor Corona beschäftigten seit Merkels Amtsantritt 2005 besonders drei Krisen die deutsche Politik: die Klimakrise, die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge vor allem aus Syrien und die Finanzkrise, die im Jahr 2007 begann. 

"Es war diese Euro- und Finanzkrise, die die Kanzlerin in ihrer Amtszeit wohl am stärksten umgetrieben hat", sagt die Journalistin und Merkel-Biografin Ursula Weidenfeld der DW. "Weil es da am Ende ganz zentral um die Frage ging: Wie hält man Europa zusammen? Und welche Rolle spielt Deutschland in einem solchen Europa?"

"Rettungsschirme" in der Finanzkrise

Merkel musste im Parlament immer wieder dafür werben, mit milliardenschweren "Rettungsschirmen" Länder wie Griechenland, Portugal und Irland vor drohendem Bankrott zu bewahren - verschiedene Formen der Finanzhilfen werden über 2000 Mal im Bundestag erwähnt. "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa", gab sie am 19. Mai 2010 im Bundestag zu Protokoll. Die Abstimmung zwischen Regierung und Parlament sei in dieser Zeit sehr eng gewesen, erinnert sich Hermann Otto Solms, der für die liberale FDP fast 40 Jahre lang im Bundestag saß. "Dadurch ist die Finanzkrise relativ schnell beherrschbar gemacht worden", sagt der Experte für Finanzpolitik im Gespräch mit der DW.

Immer wieder musste Merkel jedoch auch die eigene Fraktion zur Zustimmung drängen. Denn bei einem Ausfall der Kredite drohte auch Deutschland eine Mithaft. Das Zerwürfnis innerhalb des konservativen Lagers hatte Folgen. "Man muss daran erinnern, dass aus dem Widerstand gegen die Euro-Rettungspolitik der Kanzlerin die AfD, also eine parteipolitische Kraft rechts der Union, entstanden ist", sagt Ursula Weidenfeld.

Millionen fliehende Menschen stellen Deutschland vor die nächste Herausforderung

Ihr beherrschendes Thema fand die AfD dann aber erst 2015, als die Zahl von Menschen, insbesondere aus dem Bürgerkriegsland Syrien, die in Deutschland Schutz suchten, stark anstieg. Innerhalb eines Jahres kamen fast eine Million Flüchtlinge.

Ein Geflüchteter hält bei seiner Ankunft in München 2015 ein Foto von Angela Merkel in den HändenBild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Syrien ist das Land, das während Merkels Amtszeit am häufigsten innerhalb einer Debatte genannt wird: in der Parlamentssitzung 4. Dezember 2015 mehr als 600 Mal. Es war der Tag, an dem die Abgeordneten die Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz gegen den "Islamischen Staat" beschlossen.

Mit Blick auf die zahlreichen Flüchtlinge aus der Region hatte Kanzlerin Merkel schon im August gesagt: "Wir schaffen das". "Da hatte man den Eindruck, es ist das erste Mal, dass Angela Merkel mit ihren persönlichen Überzeugungen involviert ist", sagt Weidenfeld. Die AfD machte die Ablehnung dieser Flüchtlingspolitik zu ihrem zentralen Thema. Zwei Jahre später zog sie damit in den Bundestag ein.

Doch schon lange vor 2015 war das Thema im Bundestag präsent. "Integration ist eine Schlüsselaufgabe unserer Zeit. Mit der Ansiedelung der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt habe ich sehr bewusst ein Signal gesetzt, dass dies eine gesamtpolitische Aufgabe ist, der wir große Beachtung schenken wollen." Wie groß das Thema werden würde, wusste Merkel wohl noch nicht, als sie das in ihrer ersten Parlamentsrede als Kanzlerin 2005 sagte.

Nicht erst seit 2015: Flüchtlinge und Asyl spielen im Bundestag immer wieder eine Rolle

Der Begriff "Integration" fällt in der Parlamentssitzung vom 25. Februar 2016 am häufigsten (rund 350 Mal), zusammen mit den Worten "Flüchtling" (rund 380 Mal) und "Asyl" (rund 360 Mal). Am Ende der Debatte verschärft der Bundestag mit dem Asylpaket II das Asylrecht und schränkt vor allem den Nachzug von Familien ein.

Obwohl Integration oft erwähnt wurde: während der Debatte warfen vor allem die Oppositionsparteien Merkels Regierung vor, bei der Flüchtlings- und Asylpolitik das Thema Integration nicht ausreichend im Blick zu haben: "Den Familiennachzug auszusetzen, ist unverantwortlich. Es ist schäbig. Es stiftet natürlich Unruhe in den Unterkünften. Es verhindert Integration. (...) Können Sie sich vorstellen, welcher Vater, der seine Familie, seine Frau, seine Kinder in Aleppo weiß, hier in Ruhe Deutsch lernt und sich in das Arbeitsleben integriert? (...) In Ihrem Asylpaket gibt es wieder kein Wort zur Integration. Sie sind dabei, die bei der Gastarbeitergeneration gemachten Fehler zu wiederholen", so Katrin Göring-Eckardt von den Grünen.

Fast 40 Jahre im Bundestag: Hermann Otto Solms von der FDPBild: picture-alliance/dpa/B.von Jutrczenka

Ob sich im Lauf der Jahrzehnte nicht nur die Themen verändert haben, sondern auch der Tonfall im Parlament? Ja, sagt Hermann Otto Solms, der derzeit als dienstältester Abgeordneter "Alterspräsident" des Bundestages ist und am 26. September nicht noch einmal kandidiert. "Durch das Aufkommen der AfD ist die Wortwahl schärfer geworden." Es sei aber "richtig und gut, dass wir heftige Auseinandersetzungen im Deutschen Bundestag haben. Denn die Wähler müssen ja erkennen, dass dort um bessere Lösungen gerungen wird." 

Neben Afghanistan, Russland, der Türkei, Syrien und China wurden Frankreich und Griechenland am häufigsten im Bundestag erwähnt

Klimakrise als fortwährende Herausforderung

Ein Thema, das im Parlament über die Jahre hinweg stetige Aufmerksamkeit erhielt, war die Klimakrise - kein anderes Thema war so präsent: Der Begriff Klimaschutz fällt in nahezu jeder (80%) Parlamentssitzung unter Merkel als Kanzlerin (Erwähnungen in 768 von insgesamt 958 Sitzungen).

In ihrer Amtsantrittsrede Ende November 2005 im Parlament präsentiert Merkel Klimaschutz als Wirtschaftsthema: "Ich werde – das sage ich auch in Richtung des Umweltministers – auf meinen Auslandsreisen sehr bewusst die Klimaschutzprojekte, die nach dem Kyotoprotokoll gerade für die Entwicklungsländer von außerordentlicher Bedeutung sind, als technologisches Know-how der Bundesrepublik Deutschland propagieren. Technologieexport und Klimaschutz liegen heute ganz eng beieinander. Ich glaube, hier können wir unsere Rolle als Exportweltmeister deutlich machen."

Noch 2006/2007 galt Merkel als Klimakanzlerin, inszenierte sich in roter Outdoor-Jacke vor schmelzendem Gletscher, galt Deutschland als Vorreiter beim Thema erneuerbare Energien.

Merkel 2007 in GrönlandBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Doch nach mehr als 12.000 Erwähnungen des Wortes "Klimaschutz" seit Merkels Amtsantrittsrede im Bundestag fällt die Bilanz gemischt aus. Zwar verabschiedete der Bundestag mehr Gesetze zur Förderung erneuerbarer Energien oder zum Umweltschutz, doch es waren Kompromisse, die für Klimaschutz-Aktivisten zu spät kamen und nicht weit genug gingen.

Versäumnisse beim Klimaschutz

"Ja, das wurde im Parlament und auch in der ganzen Gesellschaft unterschätzt", sagt Hermann Otto Solms von der FDP. "Die Analyse war klar und für alle verständlich. Aber die Therapie, da hat man sich auf Irrwege begeben." Für Solms war es etwa ein Fehler, zuerst Atomkraftwerke stillzulegen. "Man hätte damit anfangen müssen, die Kohle-Energieerzeugung zu reduzieren", sagt er.

Im Parlament nahmen fossile Energiequellen (mehr als 10.000 Erwähnungen) über die Jahre mehr Raum ein als beispielsweise grüne Energie (rund 5.800 Erwähnungen) wie Solar- oder Windkraft

Versäumnisse beim Klimaschutz räumt auch Merkel selbst ein, etwa auf einer Pressekonferenz Ende Juli 2021 , einige Tage nachdem eine der größten Flutkatastrophen seit Jahrzehnten den Westen Deutschlands heimgesucht hatte: "Es ist Einiges passiert und wir sollten nicht so tun, als wenn nichts passiert ist. Aber gemessen an dem Ziel (...) ist nicht ausreichend viel passiert." Erst 2020 etwa stimmten die Parlamentarier für den Ausstieg Deutschlands aus der klimaschädlichen Kohle bis 2038. "Deshalb muss das Tempo angezogen werden", so Merkel weiter.

Flutopfer fordern mehr Klimaschutz

03:08

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Im aktuellen Wahlkampf ist Klimaschutz nun eines der Topthemen – auch, weil die Flutkatastrophe vom Juli die Bedrohung für viele Menschen hat real werden lassen. Angesichts der Gefahr von Hitze, Dürre und Überschwemmung dürfte "Klima" auch in der nächsten Legislaturperiode eines der Worte sein, die im Bundestag häufig fallen.

 

Methodik: Die genannten Erwähnungen im Text entsprechen der Mindestanzahl an Erwähnungen im Bundestag. Datengrundlage bilden die Protokolle des Bundestages, die hier abgerufen werden können und für diese Analyse mithilfe von Computerprogrammen aufbereitet wurden. Berücksichtigt wurden in unserer Auswertung nur Wortbeiträge von Bundestagsmitgliedern, während Erwähnungen von Themen in Dokument-Anlagen ignoriert wurden. Außerdem zählen nicht nur exakt wortgleiche Nennungen, sondern auch Synonyme und verwandte Begriffe (Beispiel: Nennungen von "Klimakrise" zählen auch auf den Begriff "Klimawandel" ein, Nennungen von "Ankara" zählen auch für die "Türkei". Eine Übersicht zu Begriffszuordnungen sowie weitere Details zu Daten, Vorgehen und Limitierungen der Analyse finden sich hier

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