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Gesellschaft

Die hässliche Seite der Entwicklungshilfe

Helena Humphrey
8. März 2018

Der Missbrauchs-Skandal der Hilfsorganisation Oxfam scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein. DW-Reporterin Helena Humphrey hat selbst im Bereich humanitäre Hilfe gearbeitet. Sie schildert ihre Erfahrungen.

Ein Oxfam-Zeichen wird an einer Wand in Corail, einem Lager für Vertriebene des Erdbebens von 2010, am Stadtrand von Port-au-Prince, Haiti gesehen
Bild: Reuters/A.Martinez Casares

Ich sitze auf der Rückbank eines weißen SUVs. Wir sind auf den Philippinen unterwegs, und die Buchstaben UN prangen auf den Seiten unseres Fahrzeugs. Der Verkehr kriecht im Schneckentempo. Ich schaue aus dem Fenster, wir passieren kleine Bars, Garküchen und Karaoke-Buden. Unser Auto erregt schnell Aufmerksamkeit und ist bald von Frauen und Mädchen umringt, die ihre Haare und Röcke glattziehem. Ein besonders junges Mädchen wird von den anderen nach vorne geschubst. Ich werde mich für immer an ihre hochhackigen Schuhe erinnern, die viel zu groß für ihre kleinen Füße waren. Einige Frauen erstarren auch beim Anblick unseres Autos.

Sie alle waren offensichtlich davon ausgegangen, dass wir anhalten - aber nicht, um zu helfen, sondern weil wir, die Vereinten Nationen, am Geschäft mit den Körpern der Frauen interessiert sein könnten. Die getönten Scheiben unseres SUVs trennen mich von den Frauen auf der Straße. Der Fahrer windet sich in seinem Sitz. Niemand sagt etwas.

Niemand sagt etwas

Das ist der Moment, an den ich mich sofort erinnere, als immer mehr Whistleblower Hinweise auf Missbrauchsfälle im Bereich der humanitären Hilfe geben: Oxfam, Plan International, Ärzte ohne Grenzen, Save the Children. Die Geschichten lösen bei einigen meiner ehemaligen Kollegen ein resigniertes Nicken aus. Während ich für diesen Artikel recherchiere und mit Frauen rede, die seit Jahrzehnten im Bereich der humanitären Hilfe arbeiten, wird ein Satz immer und immer wieder wiederholt: Niemand sagt etwas.

Helena Humphrey: früher UN, heute Deutsche Welle

Viele Gesprächspartnerinnen erwähnen explizit die Sorge, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, sollten sie Missbrauchsfälle öffentlich machen. Andere befürchten oder befürchteten Racheakte männlicher Kollegen und Vorgesetzter. Alle Befragten bemängeln, dass es keine ausreichenden internen Mechanismen gibt, um sexuelle Übergriffe anzuzeigen - egal, ob als Zeuge oder als Opfer.

Chiara (Name zum Schutz geändert), eine ehemalige Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen, berichtet der Deutschen Welle, dass "niemand bezahlten Sex mit Einheimischen anprangerte, weil viel zu viele mitmachten". Sie erzählt mir von einem ihrer ersten Einsätze im Jahr 2005. Sie war damals 26 Jahre alt und in der Demokratischen Republik Kongo stationiert. Chiara erinnert sich an eins der ersten Treffen mit ihren Teamkollegen vor Ort. Die Helfer seien von der Teamleitung davor gewarnt worden, sich mit Prostituierten einzulassen. "Aber nicht, weil es eine Verletzung der Menschenrechte wäre oder weil Prostitution in diesem Land illegal ist, sondern weil Prostituierte eine Gefahr für uns sein könnten, wenn wir sie mit nach Hause bringen. Wir wurden ausdrücklich davor gewarnt, dass sie uns bestehlen könnten."

"Cowboy-Kultur"

Haiti, drei Jahre später. Die gleiche Kultur des Schweigens. Eine andere Organisation: Oxfam. Chiara erzählt mir, wie ihr neuer Chef - "jünger als ich und viel weniger Erfahrung" - ihr mitteilte, dass er mit Hilfe junger, einheimischer Männer seine ganz "eigene Erkundungsmission" aufbaue. Das Oxfam-Team war damals im entlegenen Norden des Landes unterwegs, kam aber an den Wochenenden immer zurück in die Hauptstadt Port-au-Prince. "Jeden Freitag um spätestens 14 Uhr beorderte er uns in die Fahrzeuge, und wir fuhren die vier Stunden zurück." Sie lacht sarkastisch auf und schildert weiter, wie ihr junger Chef dann "in ein schickes Hotel" eincheckte, tanzte, Rum trank und "Einheimische herausfischte".

"Cowboy"-Kultur der Helfer in Haiti?Bild: Reuters/A. Martinez

Chiara sagt, dass sie ihn damals nicht gefragt habe, ob Geld für Sex floss. Sie habe es gelegentlich vermutet. Die Wochenenden waren Teil einer, wie sie es nennt, "sehr zwanglosen, Cowboy-Kultur. Ein Knaben-Club", der sexuelle Interaktionen nicht scheute, selbst wenn das Gleichgewicht der Kräfte so verzerrt war, "dass es für die Beteiligten schwierig war, nein zu sagen".

Von Gefahr zu Gefahr

Als im Jahr 2015 öffentliche Vorwürfe laut wurden, dass Soldaten einer internationalen Friedensmission in der Zentralafrikanischen Republik Kinder sexuell misshandelt hätten, atmete Hannah (Name zum Schutz geändert) erleichtert auf. Die erfahrene humanitäre Helferin hoffte damals, "dass es jetzt endlich die Chance geben würde, das Problem des sexuellen Missbrauchs von Schutzbedürftigen durch die Schützenden systematisch anzugehen".

Bei den Anschuldigungen ging es um den wohl entsetzlichsten Fall von Machtmissbrauch: Es ging "um die Vergewaltigung von 40 Kindern, um neun schwangere Mädchen und um mindestens eine HIV-Infektion", erinnert sich Hannah und ergänzt: "Die meisten Betroffenen waren auf der Flucht vor grausamer Gewalt, und sie suchten verzweifelt nach Nahrung. Sie waren doch selbst noch Babys." In mehreren Berichten war damals die Rede davon, dass einige Mädchen sich im Austausch für eine Tüte Zucker ausbeuten ließen. Doch es gibt keine "Kinderprostituierten". Es gibt nur vergewaltigte und misshandelte Kinder.

Humanitäres Karussell

Das wahre Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der Entwicklungshilfe zu erfassen ist fast unmöglich. Kriege und Katastrophen bringen es mit sich, dass schutzbedürftige Menschen von einer prekären Situation in die nächste fliehen, bevor sie jemandem ihre Geschichte anvertrauen können. Auch die humanitären Helfer selber werden schnell von einer Mission in die nächste geschickt. Das humanitäre Karussell hilft dabei, einen möglichen Machtmissbrauch zu decken.

Menschen auf der Flucht: oft verwundbarBild: Reuters/J. Bizimana

Winnie Byanyima, die Chefin von Oxfam International, will den Opfern des Missbrauchs helfen. Doch sie sieht ihr Versprechen, für Gerechtigkeit zu sorgen, auch realistisch. Im Telefongespräch mit der Deutschen Welle gibt sie zu, dass die Organisation "nicht jeden einzelnen Menschen finden kann, der von einem unserer Helfer ausgebeutet wurde, weil das Problem weit verbreitet ist." Byanyima macht auch noch auf ein weiteres Problem aufmerksam: "Es werden auch jeden Tag Frauen verhaftet, die mit Sexarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Und dann verlieren sie das bisschen Geld, weil sie für ihre Freiheit zahlen müssen. Frauen, die einmal zum Opfer von Machtmissbrauch und Gewalt geworden sind, werden sich uns kaum öffnen, weil sie Angst haben, zum zweiten Mal zum Opfer zu werden."

Was sie leisten könne, betont die Oxfam-Chefin, sei, "ihr eigenes Haus zu säubern" und für einen "Wandel der Kultur" zu sorgen. Sie fordert ein branchenweites System, um Mitarbeiter zu überprüfen. Sie setzt sich außerdem für eine unabhängige Untersuchungskommission ein. Dorothea Hilhorst, Professorin für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau an der Erasmus-Universität in Rotterdam, hält eine sektorweite Antwort für effektiver: Hilhorst schlägt deshalb die Einsetzung einer unabhängigen Ombudsperson in Regionen vor, in denen sich humanitäre Hilfe konzentriert. Bei dieser Ombudsperson könnten dann alle Fälle gemeldet und untersucht werden. "Denn stellen Sie sich vor, wenn erst das Rote Kreuz eine Kommission einrichtet, dann Ärzte ohne Grenzen, dann Oxfam und so weiter. Betroffene könnten sechs Mal oder noch öfter zum selben Thema befragt werden."

Die Zeit ist um

Für mich gibt es aber noch eine weitere, grundlegende Lösung, über die nicht viel gesprochen wird: Training. Ich erinnere mich an meinen eigenen UN-Sicherheitskurs. Als unsere Klasse erfahrener humanitärer Helfer gefragt wurde, ob einzelne Teilnehmer im Einsatz schon einmal sexuell belästigt worden seien, hob jede der anwesenden Frauen die Hand. Am gleichen Abend wurden wir Frauen dann eingeladen, im Kreis zu sitzen, um unsere Erfahrungen zu teilen. Wir sollten Wege diskutieren, die uns im Einsatz weniger verletzlich machen sollten. Die männlichen Teilnehmer wurden zeitgleich eingeladen, die Bar zu nutzen.