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Die Hamas - das kleinere Übel?

Nils Naumann30. Juli 2014

Rechte israelische Politiker fordern die Zerschlagung der Hamas. Auch eine Mehrheit der Bevölkerung will den Sturz der radikalen Islamisten. Doch ob das die Sicherheitslage verbessern würde, ist zweifelhaft.

Das zerstörte Haus von Hamas-Führer Ismail Haniyeh (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Ein Haufen Schutt: Mehr ist nicht von Ismail Hanijas Haus geblieben. Anwohner haben ein gerahmtes Porträt des Hamas-Führers von Gaza auf die Trümmer gestellt. Es ist geschmückt mit der palästinensischen Nationalfahne und den grünen Flaggen der Hamas. Am Dienstag (29.7.2014) hatte die israelische Luftwaffe das Gebäude im Flüchtlingslager Shati im Gazastreifen attackiert. Hanija und seine Familie blieben unverletzt. Sie hatten das Haus schon vor Tagen aus Sicherheitsgründen verlassen. Angeblich sollen sich die meisten Hamas-Funktionäre in einem Tunnelsystem im Untergrund des Gazastreifens aufhalten. "Die Zerstörung von Steinen", erklärte Hanija nach dem Angriff, "wird unseren Willen nicht brechen".

Geht es nach den Hardlinern in der israelischen Regierungskoalition, dann sollte nicht nur der Willen, sondern auch die Macht der radikal-islamischen Palästinenserorganisation im Gazastreifen gebrochen werden. Die lautesten Befürworter einer Zerstörung der Hamas sind Außenminister Avigdor Liebermann und Wirtschaftsminister Naftali Bennett. Liebermann ist Vorsitzender der säkular-nationalistischen Partei "Unser Haus Israel", Bennett Chef der religiösen Siedlerpartei "Jüdisches Heim". Doch auch in der Likud-Partei von Regierungschef Benjamin Netanjahu und in der israelischen Bevölkerung stoßen solche Töne auf Zuspruch. In einer Umfrage sprachen sich jüngst 69 Prozent dafür aus, den Krieg erst zu beenden, wenn die Hamas gestürzt ist. Einen Waffenstillstand zum derzeitigen Zeitpunkt befürworteten dagegen nur sieben Prozent der Befragten.

Hanija bei einem Türkei-Besuch in ruhigeren ZeitenBild: Reuters

Warnung vom Geheimdienstchef

Kritik kommt ausgerechnet von Israels wichtigstem Verbündetem und von einem Mann, von dem man das nicht unbedingt erwartet hätte. Generalleutnant Michael Flynn ist Chef des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency. Er warnte jüngst davor, die Hamas und ihren militärischen Arm, die Kassam-Brigaden, zu zerschlagen. "Wenn Hamas verschwindet, könnte etwas noch Schlimmeres entstehen", sagte Flynn auf dem Aspen Security Forum in Colorado. Das könne zum Beispiel so etwas wie ISIS sein. Die radikal-islamische Terrorgruppe hat in den vergangenen Monaten weite Teile des Iraks und Syriens erobert.

Guido Steinberg, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), teilt die Befürchtungen des US-Geheimdienstlers. In den vergangenen zehn Jahren hätten dschihadistische Gruppen im Gazastreifen bereits an Einfluss gewonnen. "Bisher hält die Hamas Gruppen wie Al-Kaida, die Al-Nusrah Front oder ISIS noch unter Kontrolle." Ein Teil der Anhänger sei in die Hamas integriert. "Von einer Schwächung der Hamas würden diese Gruppen aber sicherlich profitieren", sagt Steinberg. Wenn die Verzweiflung der Bevölkerung groß sei und entsprechende finanzielle Mittel aus dem Ausland fließen würden, so Steinberg, könnten die Extremisten sehr schnell wachsen.

Leuchtraketen erhellen den Himmel über GazaBild: picture alliance/dpa

"Die Hamas mag kein idealer Verhandlungspartner sein", sagt Steinberg, "aber einen besseren gibt es für den Gazastreifen nicht". Die Schuld dafür liege auch bei Israel. "Die israelischen Regierungen haben immer gehofft, einen sehr viel friedlicheren Verhandlungspartner bei den Palästinensern zu gewinnen, indem sie den aktuellen Partner geschwächt haben. Das ist ein grundsätzlicher Fehler der israelischen Politik der vergangenen zwei Jahrzehnte."

Israel hatte den Aufstieg der Hamas im Gazastreifen lange toleriert. Die Islamisten wurden als Gegengewicht zur säkularen Fatah gesehen. Als Israel begann, die Hamas ernsthaft zu bekämpfen, war es zu spät. Die Hamas schaffte es schließlich sogar, die Fatah aus dem Gazastreifen zu vertreiben und dort die Macht zu übernehmen.

Heute seien die Sicherheitskräfte der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu schwach, um die Hamas als Ordnungsfaktor im Gazastreifen zu ersetzen, sagt Steinberg. "Wenn man die Hamas nicht will, muss man die Fatah fördern. Und dann muss man denen auch etwas an die Hand geben, damit sie gegenüber der palästinensischen Bevölkerung darstellen können, warum sie unterstützt werden sollten. Und das geschieht in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr. Das ist das Problem. Das macht die Hamas so stark und das macht andere Gruppen so stark."

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ist im Vergleich zu Hardlinern wie Liebermann und Bennett deutlich zurückhaltender. Auch Netanjahu weiß, dass eine Entmachtung und Zerstörung der Hamas nur durch einen langen Krieg und eine Besetzung des Gazastreifens erreichbar wäre. Einen Krieg, der einen weiteren massiven Anstieg der Opferzahlen auf beiden Seiten und des internationalen Drucks auf die israelische Regierung bedeuten würde.

Israels Premier Netanjahu steht unter DruckBild: Reuters

Und so wird es wohl vorerst keine vollständige Zerstörung der Hamas geben."Realistischer ist es, die Hamas für eine Weile zu schwächen und ihr Raketenarsenal zu mindern", sagt Steinberg. Nach ein oder zwei Jahren drohe dann aber möglicherweise der nächste Gaza-Krieg.

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