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Politik

Der Machtpoker in Syrien geht weiter

Bachir Amroune
21. Oktober 2017

Nach fast vier Jahren wurde der IS aus Rakka in Syrien vertrieben. Was wie eine gute Nachricht klingt, ist in Wirklichkeit kein Grund zur Freude, nicht einmal für die kurdischen Kämpfer, die die Stadt erobert haben.

Syrien Kampf um Rakka
Bild: Reuters/R. Said

Es ist ein großer symbolischer Sieg für die US-geführte Koalition gegen den IS, aber auch ein sehr teurer. Als die kurdischen Kämpfer der Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF) ihre Fahnen in Rakka hissten, standen sie in einer komplett zerstörten Stadt, die von ihren fast 300.000 Einwohnern vollständig verlassen wurde. Und auch der Blutzoll war sehr hoch: Mindestens 3000 Todesopfer hat die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in den Kämpfen seit Juni gezählt, darunter mindestens 1100 Zivilisten, die von Luftangriffen der US-Koalition getötet wurden.

Auch wenn seine Tage gezählt sind, so bedeutet der Verlust von Rakka noch lange nicht die endgültige Niederlage für den IS. Obwohl die Stadt bereits im Juni komplett umzingelt war, konnte der IS seitdem hunderte Kämpfer und einen Großteil seines schweren Kriegsgeräts in das weiter südöstlich am Euphrat gelegene Dayr az-Zur abziehen, ohne von den Kurden oder den Flugzeugen der Koalition daran gehindert zu werden. Und auch der Sieg wurde erst möglich, nachdem mehreren hundert IS-Kämpfern und ihren Angehörigen freies Geleit zugesichert worden war - ebenfalls nach Dayr az-Zur. Dabei ist es die erklärte Strategie aller Kriegskoalitionen in Syrien, den IS zu vernichten und unter keinen Umständen mit ihm zu verhandeln. Wie ist dieser Widerspruch also zu erklären?

Der Feind meines Feindes...

... ist manchmal auch mein Feind. So könnte die Devise in diesem Krieg lauten, in dem jeder gegen jeden kämpft. Dass der IS noch nicht von der Bildfläche verschwunden ist, liegt zu einem großen Teil auch daran, dass er im Kampfgebiet immer noch von strategischer Bedeutung ist und von vielen als Joker gegen die Konkurrenz eingesetzt wird. In diesem Fall ist es die US-Koalition, die den schnellen Vorstoß der regulären syrischen Armee im ölreichen Dayr az-Zur weiter südlich bremsen will, damit die SDF die Gelegenheit bekommen, dort mitzumischen.

Mit diesem Spiel angefangen hat jedoch das Regime in Damaskus. Bereits wenige Monate nach Ausbruch der Proteste 2011 entließ es tausende Islamisten aus den Gefängnissen, während es gleichzeitig friedliche Demonstranten verhaften, foltern und töten ließ. Viele dieser Islamisten schlossen sich bewaffneten Gruppierungen an, die 2013 in den IS aufgingen. Und als der IS begann, große Gebiete zu erobern, ging das fast immer auf Kosten der gemäßigten Opposition, wie zum Beispiel 2014 in Rakka, das ein knappes Jahr zuvor von der Freien Syrischen Armee (FSA) erobert worden war. Zwischen dem IS und dem Regime schien es, bis zuletzt, einen unausgesprochenen Nichtangriffspakt zu geben. Zu beiderseitigem Nutzen: Der IS wurde nicht daran gehindert, weite Gebiete in Syrien und im Irak zu erobern und Damaskus konnte die gemäßigte Opposition in weiten Teilen des Landes zurückdrängen und international beanspruchen, die einzige Alternative zu einer islamistischen Gewaltherrschaft zu sein.

Der in der Türkei inhaftierte Kurdenführer Abdullah Öcalan ist auf den Fahnen auch in Rakka mit dabeiBild: Reuters/E. de Castro

Von großem Vorteil war das Erscheinen des IS aber auch für die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihren militärischen Arm, die Kurdische Volksverteidigungseinheiten. Als die Proteste in Syrien zu einem bewaffneten Konflikt eskalierten, zog sich die regimetreue Armee aus den ruhigen Kurdengebieten im Norden des Landes zurück, um sich besser auf die Niederschlagung der Rebellion in anderen Teilen des Landes konzentrieren zu können. Die Kurdengebiete überließ Damaskus ohne offizielle Erklärung der Selbstverwaltung der PYD, was einer in Syrien noch nie dagewesenen politischen Aufwertung der Kurden gleichkam.

Der Aufstieg der syrischen Kurden

Die größte Sorge der PYD blieb jedoch bis 2014 bestehen: Sie galten in der Türkei, in der EU, in den USA und anderen westlichen Staaten als syrischer Ableger der türkischen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die als Terrororganisation eingestuft wird. Das änderte sich schlagartig mit der schnellen Expansion des IS und vor allem durch die von den Kurden sehr medienwirksam geführte Verteidigung der nordsyrische Grenzstadt Ayn al-Arab/Kobane. Auf einmal war die PYD im Westen salonfähig und wurde von den USA zu ihrem Hauptverbündeten im syrischen Bürgerkrieg aufgebaut - durch militärische Ausbildung, moderne Waffen und die schlagkräftige Luftunterstützung der mächtigsten Luftwaffe der Welt.

Mit deren Hilfe konnte die PYD den IS zurückdrängen und zunehmend Gebiete erobern, die mehrheitlich nicht von Kurden bewohnten waren. Dadurch schien der Traum greifbar, ihre nicht zusammenhängenden Siedlungsgebiete in Nordsyrien zu vereinen und später einem Großkurdistan als Westteil anzuschließen. Von daher stammt auch der Name ihres Herrschaftsgebiets, "Rojava", der auf Kurdisch Westen bedeutet. Berichte über ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen gegen die arabische Bevölkerung ließen nicht lange auf sich warten. In einem Bericht im Oktober 2015 warf Amnesty International der PYD vor, arabische Einwohner aus zurückeroberten Dörfern zu vertreiben, ihre Häuser zu zerstören, und andere arabische Flüchtlinge nicht ihre Häuser zurückzulassen.

Rakka ist eine heute TrümmerlandschaftBild: Getty Images/AFP/B. Kilic

Um diesen Imageschaden zu reparieren und die Akzeptanz der PYD in den internationalen Medien zu erhöhen, wurden ihre Kämpfer offiziell in die 2015 gegründete SDF eingegliedert, die immer wieder als kurdisch-arabisches Militärbündnis bezeichnet werden, in Wirklichkeit aber zu über 90 Prozent aus Kämpfern der PYD bestehen.

Wird aus Rakka ein syrisches Kirkuk?

Das kann jedoch nicht darüber hinwegtنuschen, dass die Herrschaft der PYD über die weiten nichtkurdischen Siedlungsgebiete, die sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren erobern konnte, weder von der lokalen Bevِölkerung noch von den Regionalmächten - ganz besonders nicht von der Türkei - akzeptiert werden wird. Auch der angekündigte "zivile Rat", den sie bilden will, damit er Rakka regiert, hat wenig Aussichten, angenommen zu werden.

Mittelfristig wird die syrischen Kurden wahrscheinlich das gleiche Schicksal ereilen wie ihre irakischen Brüder, die kürzlich die ölreiche Provinz Kirkuk im Norden des Landes an die Zentralregierung in Bagdad abtreten mussten.

Sie werden daher versuchen, aus ihrem Bodengewinn mِglichst viel politisches Kapital herauszuschlagen, auch wenn sie wissen, dass politische Abkommen in der Region, auch solche, die sie mit den Großmächten abschließen, nicht viel wert sind. Das Angebot des syrischen Außenministers al-Muallim von Ende September, über eine Autonomie der Kurdengebiete zu verhandeln, kommt da gerade recht. Die Frage bleibt jedoch, ob die USA dem zustimmen und auch langfristig bereit sein werden, sich für die Einhaltung eines solchen Abkommens einzusetzen.

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