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Politik

Die Jaafars, Merkel und die Flucht aus Syrien

27. August 2020

Als im Jahr 2015 immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, verspricht Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Wir schaffen das!" Für die syrische Familie Jaafar ist dieser Satz zur Lebensaufgabe geworden.

Familie Jaafar 2020: Mohammad (44), Roka (33), Roshen (12), Rema (11), Matilda (1), Richard (3) 
Familie Jaafar 2020: Mohammad (44), Roka (33), Roshen (12), Rema (11), Matilda (1), Richard (3) Bild: DW/B. Schülke

"Papa, du bist peinlich!" Rema (11) und Roshen (12) verdrehen die Augen, als Vater Mohammad Jaafar von deutscher Popmusik schwärmt. "Aber ich liebe nun mal Nenas '99 Luftballons'", grinst der 44-Jährige. Seine Töchter tanzen zu Tik Tok und englischen Hits.

Als Mohammad vor fünf Jahren in Deutschland ankam, konnte er keinen der Texte von Popikone Nena verstehen. Zusammen mit seiner Frau Roka (33) und den Töchtern Roshen und Rema war er vor den Kämpfen im syrischen Aleppo geflohen - über das Mittelmeer und die Balkan-Route bis nach Berlin. "Wir wollten, dass unsere Kinder in Sicherheit leben können."

Rema (links) und Roshen in einem Park in BerlinBild: DW/B. Schülke

Fast eine Million Menschen suchten 2015 in Deutschland Asyl. Kanzlerin Merkel sagte damals zu den Deutschen, den Flüchtlingen und wahrscheinlich auch zu sich selbst: "Wir schaffen das." Ein Satz, der Familie Jaafar bis heute antreibt, aber auch an ihre Grenzen bringt.

"Schule für die Eltern, ein Auto und einen Bruder!"

Als wir die Jaafars 2016 das erste Mal treffen, hat sich die damals achtjährige Roshen entschlossen, ihr neues Leben in Deutschland positiv zu sehen. "Es ist alles schön in Deutschland", sagte sie damals. "Nichts ist schlecht!" Sie spricht schon sehr gut Deutsch, übersetzt für ihre Eltern und überhaupt: Sie will, dass auch ihre Eltern ankommen und wieder glücklich sind. Zusammen mit ihrer Schwester sandte sie eine Botschaft an die Bundeskanzlerin: "Frau Merkel, ich wünsche mir, dass meine Eltern zur Schule gehen können und wir ein Haus haben und ein Auto und dass sie auch eine Arbeit finden…und wir auch einen Bruder bekommen."

Roshen und Remas Botschaft an Bundeskanzlerin Angela Merkel

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Roshen geht jetzt aufs Gymnasium

Vier Jahre später, im Jahr 2020, besucht die inzwischen zwölfjährige Roshen das Gymnasium. Sie erzählt von ihren Einsen und Zweien auf dem Zeugnis, dass sie Medizin studieren will und dass Mathematik immer noch ihr Lieblingsfach ist. Und auch der Wunsch nach einem kleinen Bruder ist in Erfüllung gegangen. 2017 wurde Richard geboren, zwei Jahre später die kleine Matilda. Richard geht in den Kindergarten, Matilda ist schon angemeldet. "Auch die beiden sollen möglichst schnell gutes Deutsch lernen", sagt Vater Mohammad. Für die Kinder sprechen sie statt ihrer Muttersprache zu Hause nur noch Deutsch.

Seit fünf Jahren in der Flüchtlingsunterkunft

Doch auch fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Berlin leben Mohammad, Roka und die Kinder weiter in einer Flüchtlingsunterkunft: kochen, essen, spielen, arbeiten und schlafen auf 40 Quadratmetern, jetzt zu sechst. Es ist kein Platz für einen Esstisch, Stühle oder ein Sofa. Die Großen machen ihre Hausaufgaben auf dem Boden, wenn die Kleinen schlafen. Dazu all die Einschränkungen durch COVID-19. Aber sie kriegen das irgendwie hin, fast ohne Streit. Jeder nimmt sich zurück. Denn zurückkehren nach Syrien ist keine Alternative.

Üben in der Flüchtlingsunterkunft: Roshen und Rema lernen auf dem BodenBild: Privat

Am schwierigsten sei es, mit den etwa 300 Mitbewohnern der Flüchtlingsunterkunft auszukommen. Es werde viel geklaut und zerstört. Nachts können sie oft nicht schlafen, weil andere Lärm machen. Rema: "Es ist kaum auszuhalten. Viele der Leute, können sich nicht benehmen." Roshen: "Manchmal würde ich lieber auf der Straße wohnen." Immer wieder haben sich die Eltern um Wohnungen beworben, doch es hagelte Absagen: "Wer nimmt schon einen arbeitssuchenden Flüchtling mit vier Kindern?",  fragt Mohammad frustriert.

Die erste Arbeitsstelle

2019 sieht es kurz so aus, als würde es aufwärts gehen. Mohammad hat alle notwendigen Sprachprüfungen bestanden und bekommt einen Job bei einer Baufirma. "Ich war so wahnsinnig glücklich. Es war das Größte: der erste Job in Deutschland", erinnert sich der gelernte Installateur. Doch nach vier Monaten, noch in der Probezeit, erkrankte er an Hepatitis B. Der Arbeitgeber kündigte ihm. Seit Januar 2020 macht Mohammad eine Umschulung zum Busfahrer. Eigentlich ist ihm danach ein Job versprochen, aber die erste Kündigung hat ihn tief verunsichert.

Mohammad Jaafar auf der Baustelle: Gekündigt, weil er krank wurdeBild: Privat

Und dann gibt es auch noch die offene Feindschaft: Erst kürzlich wurde Roka in der Straßenbahn von einer alten Frau angeschrien, sie solle abhauen, Deutschland sei nur für Deutsche. Roka war das peinlich, sie schaute in eine andere Richtung. Niemand verteidigte sie. Tochter Rema sagt: "Das ist Rassismus und gemein!" Noch schlimmer war es, als rechte Gruppen vor ihrem Wohnheim demonstrierten. Auf den Plakaten stand: "Ausländer raus!" Die Polizei musste den Eingang zur Unterkunft schützen. Die Familie hatte große Angst.

"Es quält uns, nicht zu wissen, ob wir bleiben dürfen"

"Aber für die Kinder", versichert uns Mohammad,"läuft es richtig gut!" Roshen hat im Gymnasium schon Freunde gefunden, und Rema will Klassensprecherin werden. Sie übt vor der Familie schon mal ihre Bewerbungsrede: "Ich werde euch zuhören und euch bei euren Problemen helfen und bei Streit vermitteln." Alle klatschen stolz. Mutter Roka kann ab September weiter die Sprachschule besuchen. Und Mohammad spielt neuerdings in einer deutschen Billardmannschaft Turniere. "Weil ich so gut bin, haben sie mir die Vereinsgebühren erlassen."

Sind sie also angekommen in Deutschland, haben sie es "geschafft", so wie Kanzlerin Merkel es gesagt hat? Mohammad zuckt mit den Schultern und schaut zu seiner Frau. Sie schweigen. Ihre Aufenthaltsgenehmigung wurde gerade um zwei Jahre verlängert, aber die Ausländerbehörde hat wegen einer neuen Regelung ihre Flüchtlingspässe eingezogen. Niemand hat ihnen erklärt, was das bedeutet.

Schließlich antwortet Roka: "Angekommen? Nein! Höchstens zur Hälfte. Die Wohnungssituation quält uns sehr, und viel schlimmer ist, dass wir einfach nicht wissen, ob wir nicht doch irgendwann abgeschoben werden. Mohammad hat deswegen Albträume. Erst wenn wir dauerhaft bleiben dürfen, werden wir hier angekommen sein." Ihr kommen die Tränen. Es kostet viel Kraft, immer positiv zu bleiben.

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