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PolitikNahost

Die Jesiden - Flüchtlinge im eigenen Land

Kristina Schlick
7. November 2021

Gefoltert, getötet, vertrieben - sieben Jahre nach dem Völkermord an den Jesiden leben viele immer noch in Lagern. Ein Entwicklungshelfer aus Deutschland will, dass sie zurückkehren. Ein Luftschloss?

Reportage zur Lage der Jesiden im Nordirak
Entwicklungshelfer Jens Jessen (links) im Gespräch mit Arbeitern in ShingalBild: Killian Bayer/Kristina Schlick/DW

Eine weite Schotterstraße ragt bis in den Horizont und verschwimmt mit ihm, links ein Meer von Wellblechcontainern, dicht an dicht. Strommasten säumen die Container-Landschaft. Rechts entlang der Straße ein Zaun. Dahinter: Nichts – hier hört die Camp-Welt auf.

Der große Geländewagen, aus dem Jan Jessen aussteigt, ist klein im Vergleich – das Camp Mam Rashan im nordwestlichen Gebiet Ninawa in der Autonomen Region Kurdistan wirkt wie eine Kleinstadt. Mehr als 1500 jesidische Familien leben hier.

Der Essener Journalist Jan Jessen ist Entwicklungshelfer und leitet Projekte in der Region. Er kommt regelmäßig hier her in den Nordirak.

Ein Blick über das Camp Mam Rashan, das sich über die Hügel ziehtBild: Killian Bayer/Kristina Schlick/DW

Sechs Jahre im Camp

Er besucht die Familie von Mezafar Berges Matto. Berges Matto ist Jeside, etwa Ende 30. Sein Gesicht ist freundlich, doch das Leben steht ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Falten lassen ihn älter wirken. Er und seine Familie konnten der Terrormiliz IS gerade so entkommen. Seit Dezember 2015 leben sie in Mam Rashan – seit sechs Jahren.

Blaues, ungemütliches Licht, nussbaumfarbener PVC-Boden. Auf ihm, entlang der Wände, dünne braune Matratzen mit goldenem Muster. Hier nehmen Berges Matto und sein Gast Platz. An einer der Wände eine Leiste, an der Schlüssel hängen. Hier hat alles seinen Platz.

Der kleine Raum – das Wohnzimmer –, nicht größer als 10 Quadratmeter, füllt sich schnell mit immer mehr Menschen. Vor allem mit Kindern. Einige von Mezafar und seiner Frau, andere aus der Nachbarschaft. Mit großen, neugierigen Augen schauen sie zum Besuch und lauschen den Gesprächen der Erwachsenen. Die Gastgeberin reicht Wasser und Tee – schaut immer wieder, ob alle Gäste versorgt sind.

Die Erinnerung ist immer da

Jan Jessen, der hier öfter für die Caritas-Flüchtlingshilfe Essen unterwegs ist, bittet Mezafar Berges Matto, die Geschichte seiner Familie zu erzählen. Berges Matto faltet seine Hände ineinander, atmet tief durch, presst seine Lippen zusammen – und nickt.

Stille zieht durch den Raum. Zigarettenqualm liegt in der Luft. Nur das Rauschen der Klimaanlage ist zu hören, während Mezafar Berges Matto im Schneidersitz erzählt, wie es damals war als Daesh kam – so nennt man hier den IS. Zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich in einem Dorf in Shingal. "Daesh kam und nahm uns gefangen, sie wollten uns zwingen, unsere Religion zu wechseln," sagt er. Wie durch ein Wunder haben sie es geschafft, in die Berge zu flüchten. 


Camp-Manager Shero Semo Juqi, Camp-Bewohner Mezafar Berges Matto und Entwicklungshelfer Jan Jessen (von links nach rechts)Bild: Killian Bayer/Kristina Schlick/DW

Die Familie von Berges Matto hatte Glück, im Gegensatz zu vielen anderen. Ungefähr 12.000 Menschen wurden nach Angaben der Hilfsorganisation Yazda in der ersten Woche des Genozides entführt oder getötet. Auch danach sind viele an den Folgen von Flucht und Vertreibung gestorben. Die Alten, die Schwachen und alle, die nicht zum Islam konvertieren wollten. Die Kinder indoktrinierten sie. Jungen wurden zu IS-Kämpfern ausgebildet und die Mädchen entweder als Sexsklavinnen gehalten oder mit IS-Männern verheiratet. Bis heute gibt es zahlreiche Vermisste und längst nicht alle Opfer sind aus den Massengräbern geborgen worden.

Doch das ist Geschichte. Der sogenannte IS wurde bereits 2017 im Irak besiegt. Warum leben also etwa 300.000 Jesiden als Binnenflüchtlinge in der Autonomen Region Kurdistan? Warum können die Menschen heute, fast fünf Jahre später, immer noch nicht zurückkehren?

Der Krieg ist vorbei und doch geblieben

Die Antwort findet man, wenn man die Autonome Region Kurdistan verlässt und nach Westen Richtung Shingal fährt. Shingal – auch Sindjar gennant – ist die Heimat der Jesiden, aus der sie 2014 verjagt wurden.

Die Landschaft verändert sich schlagartig, sobald der große Geländewagen die Grenze passiert in den Landesteil, der von Bagdad kontrolliert wird. Stacheldraht, Maschinengewehre, Wachtürme. Kaum ein Grashalm, keine Bäume – eine wüstenartig braune Landschaft auf der zerbombte und verdrehte Autowracks liegen, als seien sie hastig von der Straße gekehrt worden. Leerstehende Häuser, Trümmerberge und Plastikmüll überall. Es fühlt sich an, als wäre man in einem anderen Land.

Im Nordirak gibt es gefühlt alle paar hundert Meter einen Checkpoint. An jedem zweiten heißt es anhalten, warten. Manchmal sogar Stunden. Jessen steigt immer gleich aus, um eine zu rauchen. Die schwer bewaffneten Männer bringen ihn so schnell nicht aus der Ruhe.

Die Soldaten halten US-amerikanische M16-Sturmgewehre oder Kalaschnikows in den Händen.  An ihren Munitionswesten hängen Handgranaten und Magazine. Die Munitionstaschen sind verziert mit Totenkopf-Patches. Willkür entscheidet hier über Weiterfahren oder Anhalten.

Die Sicherheitslage ist ein großes Thema für jesidische Rückkehrer

"Es gibt unterschiedliche Probleme in unterschiedlichen Regionen", sagt Thomas Schmidinger im Interview mit der DW. Der österreichische Politikwissenschaftler forscht zu ethnischen und religiösen Minderheiten im Nahen Osten.

Kämpfer einer jesidischen Verteidigungseinheit in SherfedinBild: Killian Bayer/Kristina Schlick/DW

In der Region Shingal ist die Sicherheitslage angespannt. Die Lage ist komplex: In der Region sind viele Milizen verschiedener Parteien unterwegs. So etwa die YPG, die der von Deutschland, den USA und der EU als terroristisch eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK nahesteht. Oder die teilweise durch den Iran beeinflussten " Volksmobilisierungseinheiten" (Hashd-al-Shabi-Milizen) und Kämpfer der Peshmerga. Dazwischen überall vertreten: die reguläre irakische Armee. Gleichzeitige wirft die Türkei regelmäßig Bomben ab.

Die Sicherheitslage ist ein großes Thema für jesidische Rückkehrer. "Es ist eine Tatsache, dass es im Süden relativ viele Unterstützer und aktive Kämpfer des sogenannten IS gegeben hat, die in den arabischen Dörfern und Städten unmittelbar angrenzend an jesidische Siedlungen gelebt haben und teilweise immer noch leben", sagt Schmidinger. Für viele Überlebende des Völkermords ist es undenkbar, dorthin zurückzukehren, wo ihre Peiniger noch leben.

Doch in die Kleinstadt Sinun im Norden Shingals sind schon einige Familien zurückgekehrt. Hier sei es relativ sicher, sagt Schmidinger.

Aus diesem Grund hat die Caritas-Flüchtlingshilfe Essen hier vergangenes Jahr ein Gewächshausprojekt auf die Beine gestellt. Und das ist der nächste Stopp auf der Reiseroute von Jessen.

Jan Jessen informiert sich über den Stand seines GewächshausprojektesBild: Killian Bayer/Kristina Schlick/DW

Humanitäre Hilfe als erster Schritt

"Wir versuchen jetzt hier Projekte zu machen, um rückkehrenden Leuten einen leichteren Start ins Leben zu ermöglichen" sagt Jan Jessen. Die Nachmittagssonne scheint ihm ins Gesicht, mit der Shingal-Gebirgskette in seinem Nacken. Neben ihm wächst Gemüse unter weißen Plastikplanen: Hauptsächlich Gurken und Kräuter. Der Lehmboden auf dem Jessen steht, hat Risse, einem ausgetrockneten Flussbett gleich. Wasserschläuche schlängeln sich zwischen den Gewächshäusern durch die Anlage.

Mit dem neuen Gewächshausprojekt will die Caritas-Flüchtlingshilfe Essen einem der größten Probleme in der Region begegnen. "Die Leute haben keine Jobs, wenn sie zurückkommen. Abgesehen davon, dass die Infrastruktur kaputt ist und die Sicherheitslage etwas schwierig ist, aber sie haben vor allem keine Jobs."

Mit ihrem Pilotprojekt will die Flüchtlingshilfe zeigen: Es geht - man kann hier arbeiten und es ist relativ sicher. Vor allem kann man etwas, wenn auch nicht viel, Geld verdienen. Eine Familie verdient mit der Ernte eines Gewächshauses etwa 150 US-Dollar. Und von der Ernte können sie auch selbst leben.

Das Gewächshausprojekt wird manchem die Rückkehr erleichtern. Aber es braucht vor allem eine politische Lösung für die Shingal-Region, sagt der Nahost-Experte Schmidinger. "Es braucht auf jeden Fall eine Einigung aller lokalen Akteure. Ohne das wird es keine friedliche Lösung für Sindjar geben."


Der 10-jährige Ajad mit seiner Schwester im Camp Mam RashanBild: Killian Bayer/Kristina Schlick/DW

So lange die politische Lage nicht geklärt ist und Sicherheit für die Region nicht garantiert, wird die Familie von Mezafar Berges Matto in Mam Rashan bleiben. Er, seine Frau und seine Kinder ziehen das Leben im Camp auf engem Raum noch der Rückkehr in die Heimat vor, denn sie wissen: hier im kurdischen Nordirak sind sie sicher.

Auch sein 10-jähriger Sohn Ajad. In seinem Trainingsanzug von FC Barcelona, mit seiner digitalen Armbanduhr am Handgelenk, unterscheidet ihn auf den ersten Blick nicht viel von Kindern in Deutschland. Was sind seine Träume? "Ich will einfach nur überleben", sagt Ajad und lächelt schüchtern, als wäre das zu viel verlangt.

 

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