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PolitikUkraine

"Kampf-Pinguine": Polarforscher in der ukrainischen Armee

Anna Psemyska
7. August 2023

Eine ukrainische Expedition brach in die Antarktis auf, als russische Truppen auf Kiew vorrückten. Heute kämpfen einige Forscher an der Front. Doch schon am Südpol versuchten sie, die Kriegsanstrengungen zu unterstützen.

Team der ukrainischen Polarexpedition
Ein Team der ukrainischen Polarexpedition vor der Werdnarski-StationBild: Ukrainian National Antarctic Scientific Center

Auf dem Weg in die Antarktis erfuhr Maksym Bilous, Mechaniker der 27. Ukrainischen Antarktisexpedition, vom Beginn der umfassenden russischen Invasion der Ukraine. Am 24. Februar 2022 war er zusammen mit einem anderen Expeditionsmitglied unterwegs zur ukrainischen Antarktisstation Akademik Wernadski, um den Dieselgenerator vor der Ankunft des restlichen Teams auszutauschen. Doch während seines Aufenthalts in Chile wollte Bilous zurück in die Ukraine, um sich der ukrainischen Armee anzuschließen.

2004 hatte er eine militärische Ausbildung abgeschlossen und 2014-2015 nahm er an Kampfeinsätzen im Donbass teil. Daher war es für Bilous selbstverständlich, wieder in der Armee zu dienen. Er durfte jedoch nicht zurück, da er der einzige Mechaniker der Expedition und für alle wichtigen Systeme der Station zuständig war: Heizung, Wasserversorgung, Boote und einen Kran. Zudem war es sein zweiter Antarktis-Einsatz und daher verfügte er über die nötige Erfahrung. "Mir waren die Hände gebunden - so weit weg, konnte ich meinen einstigen Kameraden nicht helfen, außer mit einer Spende oder einem Rat", sagt Bilous über seine Gefühlslage in dem Jahr, das er in der Antarktis verbrachte.

Wie die Forscher mit Kriegsbeginn aufbrachen

Während Maksym Bilous in die Antarktis fuhr und russische Truppen auf Kiew vorrückten, musste in der ukrainischen Hauptstadt entschieden werden, was die anderen Forscher tun sollten. Geplant war eigentlich, dass sie in der ersten Märzwoche 2022 Richtung Antarktis aufbrechen und die vorherige Expedition ablösen, die zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahr in der Wernadski-Station verbracht hatte. Als der russische Angriff begann, wusste das Ukrainische Antarktis-Wissenschaftszentrum nicht, ob dies noch möglich sein würde.

"Die wichtigste Frage war, ob alle elf Mitglieder des Teams bereit wären, in einer so schwierigen Zeit zur Station aufzubrechen und ihre Familien angesichts des umfassenden Krieges in der Ukraine zurückzulassen. Wir haben einen halben Tag darüber nachgedacht, dann sagten alle, sie seien bereit", erinnert sich der Chef der Expedition Jurij Otruba, für den es schon die siebte sein sollte.

Jurij Otruba vom Ukrainischen Nationalen Antarktis-WissenschaftszentrumBild: Ukrainian National Antarctic Scientific Center

Am Tag vor der Abreise gelang es Otruba noch, in Kiew Arbeitskleidung für das gesamte Team abzuholen, die die Hersteller wie durch ein Wunder rechtzeitig vorbereiten konnten. Schweren Herzens machte sich der Polarforscher auf die Reise, denn er ließ seine Eltern, beide Großmütter und seinen Bruder in Kiew zurück. "Damals war es unklar, ob wir jemals wieder nach Hause zurückkehren könnten", so Otruba.

Auch der Meteorologin Anschelika Hantschuk fiel die Entscheidung schwer. "Ich musste mein ganzes Leben in mehreren Taschen verpacken und weiß Gott wohin gehen", sagt die Wissenschaftlerin. Wenige Tage nach Kriegsbeginn gelang es ihr, ihre Eltern aus Kiew herauszuholen und sie selbst brach in die Antarktis auf. Für die 27-Jährige war es der erste Winter auf der Wernadski-Station.

Warum die Wernadski-Station nicht leer stehen darf

Teilnehmer jeder Antarktisexpedition - Wissenschaftler, Köche, Systemadministratoren, Mechaniker und Ärzte - durchlaufen ein Auswahlverfahren. Genommen werden stressresistente, kontaktfreudige und körperlich belastbare Fachleute.

Als im Sommer 2021 die 27. Ukrainische Antarktisexpedition gebildet wurde, bewarben sich fast zwei Dutzend Menschen auf einen Platz. Es wurden zwei alternative Teams zusammengesetzt und geschaut, ob sich die Kandidaten untereinander verstehen. Doch in den ersten Tagen des umfassenden Krieges war es nicht mehr möglich, noch schnell für jemanden Ersatz zu finden. Einige Forscher mussten aus dem halb eingekesselten Charkiw anreisen, andere wurden mit dem Bus von Kiew auf dem Weg zur Westgrenze der Ukraine mitgenommen. Insgesamt dauerte die Reise bis zur Wernadski-Station einen Monat.

Ohne Besatzung kann man sie nicht zurücklassen. "Wenn man eine Datscha länger als ein Jahr nicht aufsucht, beginnt sie zu verfallen. So ist das auch dort", erläutert Jurij Otruba. Hätte die Station ihre Arbeit eingestellt, wären zudem meteorologische und geophysikalische Beobachtungen ausgefallen sowie keine Daten zum Erdmagnetfeld mehr gesammelt worden, die seit 1956 in eine weltweite Datenbank eingegeben werden.

Hilfe für die ukrainische Armee aus der Antarktis

Im Winter 2022-2023 waren die ukrainischen Forscher in ständiger Sorge, was Zuhause passiert. Anschelika Hantschuks Eltern kehrten nach Kiew zurück, als die russischen Truppen die Vororte der ukrainischen Hauptstadt verlassen mussten. "Es war eine sehr schwierige Zeit für mich", sagt die junge Frau und fügt hinzu: "Jetzt, wo ich in der Ukraine bin, mache ich mir weiterhin Sorgen, aber ich weiß: Wenn etwas passiert, passiert es auch mir. Aber wenn man weit weg ist, kann man nicht gleich reagieren, und das ist schwer."

Das Team der Polarforscher mit ihrem Leiter Jurij OtrubaBild: Ukrainian National Antarctic Scientific Center

Während der gesamten Zeit hatten die Polarforscher Kontakt zur Ukraine. Der Biologe und Fotograf Serhij Hlotow begann, von den Mitgliedern der Expedition unterzeichnete "Postkarten der Unbesiegbarkeit" zu erstellen, auf denen Tiere der Antarktis abgebildet sind. Man konnte sie über soziale Netzwerke bestellen. Das Geld, das so zusammenkam, überwies Hlotow an das ukrainische Militär. Gegen Spenden für die Armee organisierten die Polarforscher auch Online-Touren durch die Wernadski-Station und Wohltätigkeitsauktionen.

Zusammenarbeit mit Amerikanern und Briten

Bis 2014 arbeiteten ukrainische Wissenschaftler eng mit russischen Kollegen zusammen und gaben gemeinsame Studien heraus. Nach Kriegsbeginn im Jahr 2014 habe es aber kaum noch Kontakte gegeben, sagt Jurij Otruba. Aber man habe gehofft, dass nicht alle russischen Wissenschaftler das Vorgehen ihrer Regierung unterstützen. Mit der umfassenden Invasion 2022 wurde eine Kommunikation mit Kollegen aus Russland schließlich unmöglich. Die russische Antarktis-Station Bellingshausen liegt 400 Kilometer von der ukrainischen entfernt, sodass man sich mit den Russen nicht über den Weg läuft.

Amerikanische und britische Kollegen besuchen die ukrainischen Forscher hingegen häufig. "Auf dem Weg zu ihrer Antarktis-Station Rothera kommen sie an unserer vorbei. Dieses Jahr haben sie uns auch besucht und uns ihre Unterstützung zugesagt", erzählt Otruba. Die Wernadski-Station gehörte bis 1996 Großbritannien und hieß Faraday. Die Briten übergaben sie damals für die symbolische Summe von einem Pfund Sterling an die Ukraine. In der heutigen ukrainischen Station gibt es nach wie vor die südlichste Kneipe der Welt, genannt Faraday, und gebaut nach dem Vorbild eines englischen Pubs.

Rückkehr in die kriegsgebeutelte Ukraine

Zurück in Kiew wartete auf Jurij Otruba sein Arbeitsplatz im Antarktis-Wissenschaftszentrum. Im Oktober 2022 war vor dem Gebäude im Zentrum der Stadt eine russische Rakete eingeschlagen. Inzwischen sind die kaputten Fenster ersetzt und die Reparaturen im Inneren dauern noch an. Otruba weiß noch nicht, ob er sich beim nächsten Auswahlverfahren wieder bewerben wird, um ein achtes Mal in die Antarktis zu gehen. Es hänge davon ab, welche anderen Kollegen sich auch dazu entscheiden würden.

Auch Anschelika Hantschuk ist unentschieden. Sie sagt, dass die Wetterbedingungen in der Antarktis und die dort eingeschränkte Ernährung den Körper belasten. Im Winter kann die Station nicht angesteuert werden, so fehlen frisches Gemüse und Obst. Doch gleichzeitig liebt die Meteorologin die antarktischen Landschaften, Perlmuttwolken und das jahrtausendealte Eis. "Allein dies belohnt den Verzicht. Wenn man das einmal gesehen und gefühlt hat, will man immer wieder dorthin zurückkommen", sagt sie.

Pinguine in der AntarktisBild: Natalie Thomas/REUTERS

Maksym Bilous meldete sich unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der Antarktis beim Militär. Seit einem Monat dient er als Ausbilder von Pionieren in einer Unterstützungseinheit der ukrainischen Streitkräfte. Jederzeit kann er zum Einsatz an die Front gerufen werden. Um neue Ausrüstung für seine Einheit zu kaufen, führen seine Forscher-Kollegen Auktionen durch, bei der sie Antarktis-Souvenirs verkauften: Abzeichen verschiedener Expeditionen, Stickereien mit Pinguinen und Postkarten aus der Antarktis. Bilous ist seinen Kollegen von Herzen dankbar. Auch er sagt, dass er die Antarktis vermisst. "Sie ist zu einem zweiten Zuhause geworden. Dort herrscht eine eigene wilde Romantik", sagt er.

Mindestens 17 ukrainische Polarforscher verschiedener Expeditionen dienen laut dem Ukrainischen Antarktis-Wissenschaftszentrum derzeit in der Armee. Ihre Kollegen nennen sie im Scherz liebevoll "Kampf-Pinguine".

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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